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BASTEI LÜBBE TASCHENBUCH Band 15 201

 

1. Auflage: März 2003 Vollständige Taschenbuchausgabe Bastei Lübbe Taschenbücher ist ein Imprint der Verlagsgruppe Lübbe

Deutsche Erstausgabe Titel der englischen Originalausgabe: Call the Dead Again © 1998 by Ann Granger © für die deutschsprachige Ausgabe 2004 by Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, Bergisch Gladbach Lektorat: Alexander Huiskes/Stefan Bauer Umschlaggestaltung: QuadroGrafik, Bensberg Titelillustration: David Hopkins Satz: hanseatenSatz-bremen, Bremen Druck und Verarbeitung: Elsnerdruck, Berlin Printed in Germany ISBN 3-404-15201-8

Sie finden uns im Internet unter http://www.luebbe.de Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich der gesetzlichen Mehrwertsteuer.

Oh grausamer Tod, was hast du getan? Am Boden die sterbliche Hülle liegt, die Seele zum Himmel gerufen. Zu Staub der Leichnam zerfällt. Trauernde Freunde warten vergeblich. Kein Seufzer, keine Tränen bringen die Toten zurück.

Epitaph auf einem Friedhof in Cornwall, 1820

KAPITEL 1

»ICH WILL heute Abend in Bamford sein. Fährt jemand in diese Richtung?«

Die Worte erklangen scharf und akzentfrei, mit einem leicht gebieterischen Unterton. Die Männer, die sich um den schmuddeligen Imbissstand drängten, wandten wie auf ein Kommando hin die Köpfe. Selbst Wally, Inhaber und Koch in Personalunion, war verblüfft. Er legte beide Hände auf den mittels Ketten gesicherten schmierigen Tresen an der Seite des Wagens und beugte sich vor, um die Sprecherin in Augenschein nehmen zu können.

Durch die Verlagerung von Wallys nicht unbeträchtlichem Gewicht geriet der kleine Lieferwagen ins Wanken, und sein Inhalt klimperte. Eine Pyramide fertig eingepackter Snacks sackte in sich zusammen und landete verstreut auf dem Tresen. Anhand der Farbetiketten ließen sie sich leicht auseinander halten: Käse und Zwiebeln – Barbecue – Hühnchentikka. Ein Snack fiel über den Rand auf den Boden. Ein Kunde, zu dessen Füßen er landete, bückte sich, hob ihn auf und steckte ihn in die Tasche seiner ledernen Blousonjacke. Wally war niemals so abgelenkt, dass er einen Diebstahl wie diesen übersah. Er verdrehte ein blutunterlaufenes Auge, und der Kunde kramte hastig nach Kleingeld, warf dann schnell ein paar Münzen auf den Tresen und wandte sich anschließend sogleich wieder nach der Stimme um.

Der Parkplatz war voll gestellt mit geparkten Lastwagen. Wallys Imbiss war eine regelmäßige Anlaufstelle für die Fernfahrer. Bei ihm gab es heiße Getränke, angebrannte Würstchen, würziges Gebäck mit Kartoffeln, Zwiebeln und Rüben, die er wohlklingend

»Cornwall Pasties« nannte, Schinkenbrote und große Stücke Rosinenkuchen. Wally behauptete voller Stolz von seinen Kochkünsten, seine Mahlzeiten machten jeden Kunden satt. Tatsächlich machten sie seine Kunden nicht nur satt, sondern sie hinterließen in ihnen auch das Gefühl, als müsse man niemals wieder etwas essen. Wallys Preise waren niedrig, seine Hygiene fragwürdig, und er hatte rund um die Uhr geöffnet. Dabei beobachtete er, wie er es später gegenüber Sergeant Prescott formulierte,

»das Leben. So ungefähr die ganze Bandbreite. Und noch mehr«.

Was er bei dieser speziellen Gelegenheit sah, war eine junge, schlanke Frau, die seiner Meinung nach vielleicht achtzehn oder neunzehn Jahre alt war. Sie trug Jeans und darüber eine Tweedjacke von der Sorte, die Wally eigentlich mit jenem Schlag Männer und Frauen verband, die hin und wieder aus den Führerhäusern von Pferdetransportern stiegen und laut

»Bedienung!« riefen, als wäre er das verdammte Ritz. Sie stand ein kurzes Stück entfernt und musterte die Männer mit kritischen Blicken.

»Und«, fügte Wally im Verlauf der späteren Unterhaltung hinzu,

»sie war atemberaubend. Wie eins von diesen Models. Groß, ein wenig dünn vielleicht, aber Haare, so was hast du noch nicht gesehen. Jede Menge Haare.« An dieser Stelle klang Wally ein wenig melancholisch und fuhr sich mit der Hand über den kahl werdenden Schädel.

»Hatten eine wunderbare Farbe. Gefärbt, schätze ich. Trotzdem, wunderbare Haare. Irgend so ein goldener Bronzeton. Sie war jedenfalls keine gewöhnliche Anhalterin und schon gar keine billige Nutte. Sie hatte Klasse, das konnte jeder sehen.« Er klang ehrfürchtig.

Eddie Evans gingen ähnliche Gedanken durch den Kopf. Er war mit einem unbeladenen Laster auf dem Heimweg. Ein Lastzug ohne Fracht bedeutete ein schlechtes Geschäft, doch es hatte ein Missverständnis gegeben, und ein selbstständiger Fuhrunternehmer wie Eddie, eine Einmannband, die sich selbst beschäftigte, wie er es zu nennen pflegte, endete in so einem Fall in der Regel mit leeren Händen.

Das Wetter war den ganzen Tag lang trüb gewesen, obwohl angeblich bereits Frühling herrschte. Dieses Jahr schien der Winter nur zögerlich zu weichen, um einer wärmeren Jahreszeit Platz zu machen. Die Sonne war hinter einem dichten Wolkenschleier verborgen, und die Temperaturen waren ungewöhnlich niedrig. Bäume und Hecken trieben nur langsam aus, und die Frühlingsblumen hatten ausnahmslos Verspätung.

Die graue Stimmung hatte Eddie angesteckt. Beim Anblick von Wallys Imbisswagen, geschmückt mit den Verheißungen warmer und kalter Erfrischungen, war er auf den Parkplatz eingebogen – nicht so sehr, weil er eine Tasse alten Tees brauchte, um sich zu stärken, sondern weil er belebende Gesellschaft suchte, etwas für die Seele. Andere Fahrer, von denen er einige kannte, versammelten sich stets um diese Tageszeit bei Wallys Imbiss, kurz nach vier Uhr nachmittags. Eddie war nach einer Pause zumute und nach einem Schwätzchen mit ein paar Kollegen.

Im Allgemeinen nahm Eddie keine Anhalter mit, weder weibliche noch männliche. Er kannte jemanden, der eine ganze Menge Scherereien bekommen hatte deswegen. Eddies Bekannter hatte ein Mädchen mitgenommen, das später am anderen Ende des Landes tot in einem Straßengraben gefunden worden war. Die Polizei hatte jeden aufgespürt, der die Kleine gesehen oder sie in seinem Wagen mitgenommen hatte, und es hatte einen Haufen Geld gekostet. Niemand führte Eddies Geschäft oder zahlte seine Hypotheken ab, wenn er zur Befragung festgehalten wurde und seine Termine über den Jordan marschierten. Und so ignorierte Eddie seither die Tramper, die einsam am Straßenrand standen und ihre Pappschilder mit den aufgekritzelten Namen ferner Städte in die Höhe hielten.

Wallys Tee hatte das Gefühl von Depression nicht vertreiben können, das der stahlgraue Himmel und das entgangene Geschäft hervorgerufen hatten. Stattdessen war ein Widerwille hinzugekommen, die gesellige Menge vor dem Imbisswagen zu verlassen und weiterzufahren. Das menschliche Bedürfnis nach Gesellschaft führte letztendlich dazu, dass Eddie an diesem einen Tag eine Ausnahme von seiner ansonsten ehernen Regel machte.

Ohne nachzudenken, hörte er sich sagen:

»Ich kann Sie ein gutes Stück weit mitnehmen, Süße. Ich lass Sie an der Abzweigung nach Bamford raus. Von da aus müssen Sie sich eine neue Mitfahrgelegenheit suchen.«

Gesichter, die zuvor die junge Frau angestarrt hatten, drehten sich zu ihm um und starrten nun stattdessen ihn an. Sie alle wussten, dass Eddie sich niemals erbarmte und einen Tramper mitnahm.

Wallys Samowar mit dem heißen Tee darin brodelte und zischte in das verblüffte Schweigen hinein. Der Besitzer des Samowars zog schweigend und missbilligend den Kopf ein, nahm die Münzen, die als Bezahlung für die Kartoffelchips auf dem Tresen lagen, und legte sie in seine altmodische, mechanische Registrierkasse.

Das Mädchen wartete. Niemand machte ein besseres Angebot. Niemand sagte ein Wort, doch die Gedanken aller hingen so schwer in der Luft wie der heiße Dampf aus dem Samowar.

Die junge Frau blickte Eddie an.

»Also schön, danke«, sagte sie. Sie nahm den alten khakifarbenen Proviantbeutel auf, der zu ihren Füßen gelegen hatte, und hängte ihn sich über die Schulter. Offensichtlich hatte sie nicht vor, länger zu warten. Ihr Verhalten war vielmehr das von jemandem, der ein Taxi herbeigerufen hatte – bestimmt jedenfalls nicht das einer Anhalterin, die sich eine kostenlose Mitfahrgelegenheit erbettelt hatte. Eddie, von ihrer Ungeduld angesteckt, warf seinen leeren Styroporbecher in den verbeulten Abfalleimer aus Drahtgeflecht. Hinter ihm erklang ein amüsiertes Gemurmel, als er die Gruppe zurückließ und zu seinem Sattelzug stapfte. Wally beschäftigte sich bereits wieder mit seinem spuckenden Samowar. Seine verbliebene Klientel äußerte die Ansicht, dass Eddie sich soeben in Schwierigkeiten gebracht hätte. Privat war Wally durchaus geneigt, sich dieser Meinung anzuschließen, doch er ließ sich niemals dazu hinreißen, in den vielfältigen Diskussionen, die vor seinem fahrbaren Imbissstand ausgetragen wurden, Partei für die eine oder andere Seite zu ergreifen. Dann fragte jemand:

»Wer hat sie eigentlich hergebracht?« Schweigen, gefolgt von einem Gewirr aus Fragen und verneinenden Antworten.

»Sie muss doch irgendwie hierher gekommen sein! Sie kann doch nicht aus dem Nichts kommen!«, beharrte der erste Fragesteller.

»Seht euch doch nur um!«, fügte er hinzu und beschrieb eine weit ausholende Geste mit kräftigem Arm.

»Wir sind meilenweit von jeder Ansiedlung entfernt. Hier gibt es nichts als Felder!« Dennoch wollte niemand die junge Frau auf dem Parkplatz abgesetzt haben, und niemand hatte gesehen, wann sie gekommen war.

»Als wäre sie mitten aus dem Nichts materialisiert«, sagte jemand, und Wally, beileibe kein abergläubischer Mann, fröstelte plötzlich trotz der stickigen Hitze in seinem Imbisswagen.

Eddie bereute seine Hilfsbereitschaft schon, noch bevor er seinen Lastzug erreicht hatte. Von Zweifeln erfüllt kletterte er in das Führerhaus. Die Vertrautheit seiner Fahrerkabine, der leicht verschwitzte Geruch, das Maskottchen, ein CornwallKobold, der Schnappschuss von seiner Frau, mit Tesafilm neben dem Tachometer angebracht, all diese Dinge konnten ihn nicht beruhigen. Stattdessen schienen sie ihn unaufhörlich daran zu erinnern, dass er eine eiserne Regel gebrochen hatte.

Die junge Frau kletterte geschickt auf der Beifahrerseite in die Kabine und gesellte sich zu ihm. Eddie bedachte sie mit einem verstohlenen Blick, während sie ihren Khakibeutel unter dem Beifahrersitz verstaute. Sie war ungefähr so alt wie seine eigene Tochter. Auch Gina hatte lange Haare und trug sie hinter dem Kopf zusammengebunden, doch da endeten die Ähnlichkeiten auch schon. Diese junge Frau hier hatte etwas an sich, eine Aura, einen Touch von etwas Undefinierbarem, der Gina vollkommen fehlte. So stolz Eddie im Allgemeinen auf seine Tochter war, nun spürte er so etwas wie Neid.

Es war nicht so, als wäre die junge Frau modisch gekleidet. Sie trug die üblichen Jeans und komische braune Lederstiefel, die bis zu den Knöcheln reichten. Nicht von der Sorte, die man schnüren musste, sondern altmodische Dinger mit elastischen Gummis in der Seite, die wahrscheinlich eine ganze Menge Kohle gekostet hatten. Gina stand mehr auf die modischen Accessoires, und sie waren so gut wie immer überteuert. Diese Stiefel hier sahen nach allerbester Qualität aus, keine Billigproduktion aus dem Fernen Osten oder Südamerika, die nur eine Saison und einen flüchtigen Trend lang halten musste. Die Jacke, dunkelbrauner Tweed mit ledernen Ellbogenschonern, war ebenfalls Qualität. Darunter trug sie eine dunkle Bluse und einen gelben Männerschal um den Hals. Eddie beobachtete, wie sie den Schal herunterzog und ihn in ihrem Schoß festhielt, während sie nach vorne sah.

Ihr Haar stand in grellem Kontrast zu dieser demonstrativen Schlichtheit. Im schwachen Licht der Kabine sah es aus, als würde es von innen heraus leuchten. Er fühlte sich an einen polierten Messingleuchter in einer Kirche erinnert, in dem sich die tanzenden Kerzenflammen ringsum spiegelten. Es wurde im Nacken von einem Band zusammengehalten, von wo es zur Seite und über eine Schulter fiel. Eine Locke hatte sich gelöst und hing ihr ins Gesicht. Es sah nicht unordentlich aus. Es sah aus, als sollte sie dort hängen. Sie hatte eine wunderbare Haut. Gina hatte Pickel und gab ein Vermögen für Aknemittel aus.

Er legte den Gang ein und lenkte den Sattelzug vom Parkplatz, während er sich der beobachtenden Augen aus der Richtung von Wallys Imbissbude bewusst war.

»Ich hab eine Tochter in Ihrem Alter«, sagte er.

»Sie heißt Gina.«

»Oh, tatsächlich?« Die Antwort war höflich desinteressiert. Ein wenig verärgert fragte er:

»Und wie heißen Sie?«

»Kate.« Na wunderbar, dachte Eddie düster. Ihre Bekanntschaft war

erst ein paar Minuten alt, und schon jetzt fühlte er sich, als wären fünfundzwanzig Jahre seines Lebens einfach von ihm abgefallen. Er war wieder ein schüchterner Jugendlicher, der versuchte, in einer Bar oder auf einer Party ein Mädchen anzugraben, ein Mädchen, das mit einer anderen Gruppe gekommen war. Ein Mädchen, von dem er sehr schnell erkannte, dass es in einer anderen Liga spielte.

»Dann wohnen Sie also in Bamford?«, erkundigte er sich mit einer Jovialität, die weder ihn selbst noch sie täuschte.

»Nein. Ich besuche jemanden.«

»Kommen Sie von weit?«

»Weit genug.« Eine Pause.

»London.« Sie hob eine Hand und schob ihre langen blonden Haare nach hinten, sodass er ihren makellosen Hals sehen konnte. Mit größerem Bedauern als je zuvor, dass er sich in diese Situation gebracht hatte, suchte Eddie Zuflucht in väterlichem Rat.

»Trampen kann für eine junge Frau ziemlich gefährlich sein«, sagte er kritisierend und krallte die Hände in das Lenkrad. Sie sah ihn aus weit auseinander stehenden Augen an.

»Ich bin vorsichtig.« Sein Mund war ganz trocken. Das lag wahrscheinlich an Wallys altem Tee. Man konnte Schiffsplanken streichen mit diesem Tee.

»Sind Sie Studentin?«, fragte er rau.

»Mmmh …« Sie lehnte sich zurück und blickte verträumt durch die Windschutzscheibe auf die vor ihnen liegende Straße.

»Gina, meine Tochter, macht eine Ausbildung zur Krankenpflegerin.« Er konnte die Verzweiflung in seiner Stimme hören.

»Großartig.« Sie klang geistesabwesend. Meinetwegen, dachte Eddie. Sie will sich nicht mit mir unterhalten, und ich grabe mir selbst eine Grube, indem ich sie dauernd anquatsche. Ich hätte mich an meine Prinzipien halten sollen. Je schneller ich sie loswerden kann, desto besser. Was soll das überhaupt, warum trampt sie durch die Gegend? Sie hat bestimmt Geld. Doch Geld hatte oftmals nichts damit zu tun. In einem unangenehm hellen Augenblick kam ihm der Gedanke, dass sie wahrscheinlich ein Spiel spielte. Nicht er hatte sie aufgelesen, sondern sie ihn.

»Dieser Jemand, den Sie in Bamford besuchen wollen …«, sagte er.

»Werden Sie erwartet?«

»Ich weiß es nicht«, murmelte sie.

»Aber ich denke schon. Auch wenn er nicht mit mir rechnet.« Sie sah ihn erneut an und lächelte. Ein hübsches Lächeln.

»Es soll eine Überraschung sein«, sagte sie.

Er setzte sie wie versprochen bei der Ausfahrt nach Bamford ab. Inzwischen war das Tageslicht schwächer geworden, Nebelschwaden trieben über die Felder. In der frühen Dämmerung glichen die Bäume Gespenstern. Man konnte beinahe glauben, dass noch immer Winter wäre. Eddie hatte es kaum erwarten können, sie loszuwerden, endlich, gar keine Frage. Und doch verspürte Eddie nun ein merkwürdiges Zögern, eine junge Frau – irgendeine Frau – in dieser verlassenen Gegend abzusetzen, ganz allein und so spät am Tage. Er sah auf die Uhr im Armaturenbrett. Es war erst zwanzig nach sechs und im Grunde genommen noch gar nicht so spät. Trotzdem, es war kalt draußen. Die kalte Brise wehte durch die offene Beifahrertür herein.

»Kommen Sie zurecht, meine Liebe?«

»Sicher«, rief sie zu ihm hinauf. Nur ihr Kopf war sichtbar, als sie auf der Straße stand. Sie machte Anstalten, die Tür zuzuwerfen, doch Eddie beugte sich zu ihr hinüber und hielt sie auf.

»Ich könnte einen Abstecher machen und Sie direkt vor der Haustür abliefern – aber ich möchte nicht zu spät kommen. Meine Frau wartet zu Hause auf mich.«

»Nicht nötig.« Sie klang so gelassen und zuversichtlich, dass er fast verlegen war wegen seiner Besorgnis. Sie entfernte sich bereits vom Wagen, den Khakisack über den Schultern, der ihre Mähne verdeckte.

»Danke!«, rief sie zu ihm zurück und hob die Hand zum Gruß, ein alabasterweißer Fleck im Zwielicht. Ihre Gestalt wurde undeutlich und verblasste immer mehr, bis sie schließlich nicht mehr zu sehen war. Den ganzen restlichen Heimweg war Eddie nicht im Stande, das Gefühl abzustreifen, dass er irgendwie etwas Unrechtem Vorschub geleistet hatte.

Meredith Mitchell sah den Lastzug vor sich, der kurz vor der Abfahrt Bamford vom Haltestreifen auf die Straße zurückkehrte. Die Rücklichter leuchteten wie wütende rote Augen, als er in die zunehmende Dämmerung davondonnerte. Sie fragte sich, warum er dort angehalten hatte. Vielleicht hatte der Fahrer die Orientierung verloren und auf einer Straßenkarte nachgesehen. Vielleicht hatte er auch ein natürliches Bedürfnis verspürt und angehalten, um sich kurz in die Büsche zu schlagen.

Sie hatte den Laster bereits wieder vergessen, als sie am Ende der Abfahrt stand und auf die Straße nach Bamford einbog. Ihr Herz machte einen Sprung. Es war das letzte kleine Stück auf ihrem Weg nach Hause. Sie war eine Woche lang in den South Downs gewesen und nicht in ihrem Büro im Foreign Office, weil sie gemeinsam mit einigen Kollegen einen Lehrgang geleitet hatte. Zumindest theoretisch dauerte der Lehrgang noch bis zum nächsten Tag, einem Freitag. Erst am Mittag sollte er offiziell enden und Lehrkräfte wie Teilnehmer nach Hause entlassen werden. In der Praxis war praktisch jeder bereits heute, am Donnerstagabend, aufgebrochen und hatte den Lehrgang verlassen.

Meredith hatte sich dem Exodus der Lemminge angeschlossen, weil sie wenig Sinn darin gesehen hatte, auf ihrem Posten zu bleiben wie der zum Untergang verurteilte Wächter bei den Toren von Pompeji. Die wenigen Lehrgangsteilnehmer, die bereit gewesen waren, bis zum Freitag zu warten und ihrem Vortrag zu lauschen, hatten mit sichtlicher Erleichterung zugestimmt, am heutigen Tag eine halbe Stunde länger zu machen, um die restlichen Themen zu besprechen und anschließend ebenfalls nach Hause zu fahren.

Sie hatte Alan angerufen, bevor sie losgefahren war, und hatte ihn über die Änderung des Zeitplans informiert. Sie hatten ausgemacht, dass Meredith direkt zu ihm nach Hause und nicht zu sich fahren würde. Er wollte versuchen, früher Feierabend zu machen und sie in Empfang zu nehmen. Sie würden eine Flasche Wein aufmachen und einen gemütlichen Abend verbringen.

Die Freude darüber, dass sie dem Lehrgang entkommen war und ein gemütlicher Abend auf sie wartete, wurde nur durch die Tatsache ein wenig getrübt, dass sie nicht gerne zur Dämmerstunde mit dem Wagen unterwegs war. Wenn es richtig dunkel war, mitten in der Nacht, wenn die Scheinwerfer die Straße hell erleuchteten, machte es ihr nichts aus. Doch während der Dämmerung mischten sich schwindendes Tageslicht und Scheinwerfer und verwandelten Umrisse in anthropomorphes Leben und Missgestalten. Es erinnerte Meredith jedes Mal an die Szene im Wizard of Oz, als Dorothy, die am Wegesrand stehen bleibt, um einen Apfel zu pflücken, einen gewaltigen Schrecken erleidet, weil der Baum ihr den Apfel wieder entreißt.

Vor ihr war etwas auf der Straße. Es bewegte sich zum Rand hin, als es in den Kegel ihrer Lichter gelangte. Zuerst hielt Meredith es für ein Tier. Kleine Muntjakhirsche wanderten durch die Pflanzungen zu beiden Seiten der Straße, seit sie vor vielen Jahren aus irgendeinem Park entwichen waren; mittlerweile hatte sich ihre Population prächtig entwickelt. Doch es war kein Hirsch, wie Meredith schnell sah, sondern eine menschliche Gestalt. Eine echte menschliche Gestalt und kein Streich, den ihre übereifrige Fantasie ihr spielte. Jemand marschierte die Straße entlang, hier draußen, wenigstens fünf Kilometer von den ersten Häusern der kleinen Stadt Bamford entfernt. Vielleicht jemand von einer Farm?

Als Meredith vorbeifuhr, bemerkte sie, dass es eine junge Frau war, die einen kleinen Rucksack oder etwas in der Art auf der Schulter trug. Es war recht spät für eine Anhalterin, obwohl, um der Wahrheit die Ehre zu geben, die junge Frau keinen Daumen gehoben und auch nicht signalisiert hatte, dass sie mitgenommen zu werden wünschte.

Vielleicht bewog genau das Meredith dazu, auf die Bremse zu treten. Während sie darauf wartete, dass die junge Frau herankam, schaltete sie die Innenbeleuchtung ihres Wagens ein, damit die Fremde sehen konnte, dass eine Frau auf sie wartete und nicht irgendein dämlicher Kerl, der eine Chance witterte.

Doch das eingeschaltete Innenlicht machte es Meredith schwer, etwas im Rückspiegel zu erkennen. Der ehemalige Vorteil des Fahrers war verloren, und nun war es Meredith, die allein in ihrem Wagen saß, gut sichtbar für jedermann, und sich wie in einem Goldfischglas fühlte, während draußen jemand näher kam, der für sie unsichtbar war. Oder waren es mehrere? Es hätten durchaus auch zwei sein können, und Meredith hatte den zweiten schlichtweg übersehen. Es wäre wahrscheinlich besser gewesen, nicht dem Instinkt nachzugeben und anzuhalten. Der Impuls, den guten Samariter zu spielen, endete womöglich noch damit, dass sie von zwei streunenden Hippies überfallen und beraubt wurde. Fast wäre sie wieder losgefahren, doch falls der einsame Fußgänger tatsächlich Hilfe benötigte, würde Merediths Flucht wie ein grausamer Streich aussehen. Also wartete sie.

Als der Fußgänger endlich neben Meredith angekommen war und vor dem Beifahrerfenster auftauchte, da geschah dies so unvermittelt, dass Meredith völlig überrascht wurde. Sie war froh zu sehen, dass die junge Frau allem Anschein nach doch alleine durch die Nacht marschierte.

Meredith riss sich zusammen, ließ das Fenster nach unten und rief:

»Hallo, ich fahre nach Bamford – wenn Sie mitfahren wollen?«

»Ich möchte nicht bis ganz in die Stadt, nur bis zu den ersten Häusern.« Die Stimme kam deutlich und akzentfrei, vermittelte den Eindruck von Wohlerzogenheit. Obwohl man darauf heutzutage nicht mehr ohne Weiteres schlussfolgern konnte.

»Fein. Ich setze Sie am Stadtrand ab.«

Die junge Frau nahm auf dem Beifahrersitz Platz und legte ihren Proviantbeutel in den Schoß. Sie starrte geradeaus durch die Scheibe nach draußen, beobachtete den Lichtkegel der Scheinwerfer und schwieg ansonsten.

Das beharrliche Fehlen eines jeden Versuchs einer Unterhaltung war auf Dauer entnervend, und so unternahm Meredith einen Versuch.

»Wohnen Sie in Bamford?«

»Nein.« Höflich, doch bestimmt. Das geht Sie nichts an, sagte der Ton. Meinetwegen, dachte Meredith, die es ebenfalls nicht mochte, von Fremden ausgefragt zu werden. Ihre nächste Bemerkung war auf das Notwendigste beschränkt:

»Wo soll ich Sie rauslassen? Wissen Sie, wo Sie hinmüssen?« Die junge Frau sah Meredith an.

»Es heißt Tudor Lodge. Ich glaube – so wurde es mir jedenfalls beschrieben –, es liegt ganz am Rand der Stadt, fast das erste Haus.«

»Ich kenne Tudor Lodge. Es gehört den Penhallows.«

»Ja.«

»Ich kenne Carla Penhallow. Sind Sie eine Freundin von Luke?« Schweigen. Meredith hatte das Gefühl, als hätte ihre Frage die junge Frau aus der Fassung gebracht.

»Nein.« Die Antwort war einsilbig, wie schon zuvor, doch diesmal fehlte die verschlossene Gelassenheit. Nun ja, rief sich Meredith ins Gedächtnis, es geht mich tatsächlich nichts an. Sie will es mir nicht verraten, also sollte ich gefälligst meinen vorlauten Mund halten. Doch ihre Neugier war geweckt und obsiegte über höfliche Diskretion.

»Wenn Sie noch nie in Tudor Lodge waren«, hörte Meredith sich fast gegen ihren Willen nachhaken,

»dann werden Sie überrascht sein. Es ist ein sehr altes und wunderschönes Haus, auch wenn es gewissermaßen das reinste Flickwerk ist.«

»Flickwerk?« Wenigstens diesmal schwang Neugier in der Stimme der jungen Frau mit. Na endlich, dachte Meredith. Doch noch eine menschliche Regung.

»Der älteste Teil ist elisabethanisch. Er befindet sich auf der linken Seite, wenn Sie das Haus von der Straße her sehen. Auf der rechten Seite befindet sich eine Erweiterung aus georgianischer Zeit. Die Steinveranda ist viktorianisch, Tudorstil. Trotzdem passt alles irgendwie zusammen. Ich beneide Andrew und Carla sehr um dieses Haus.«

»Es klingt hübsch …« Ein Hauch von Aufforderung weiterzusprechen. Die junge Frau wollte mehr wissen und war nun offensichtlich doch bereit, sich mit Meredith zu unterhalten. Doch jetzt war die Reihe an Meredith, sich mit Informationen zurückzuhalten. Wer um alles in der Welt war diese junge Frau überhaupt? Sie sah aus wie neunzehn, wirkte gut erzogen und doch so kühl wie Pfefferminze … Endlich – ein wenig verspätet – zählte Meredith zwei und zwei zusammen. Die junge Frau musste aus dem Lastzug ausgestiegen sein, an der Abfahrt nach Bamford. Sie war bis dorthin getrampt. Das ergab aber doch keinen Sinn!? Es wäre nur dann logisch gewesen, wenn sie eine Freundin von Luke war, dem Sohn der Penhallows. Eine Studentin, knapp bei Kasse, wie das eben bei Studenten so üblich war. Doch falls sie eine Freundin der Eltern war, entweder von Andrew oder Carla, oder jemand von Carlas Verlag oder dem Fernsehsender, der Carlas populärwissenschaftliche Sendungen produzierte, dann hätte sie doch wohl einen eigenen Wagen gehabt. Der Name von Bamford leuchtete auf dem Ortseingangsschild auf, zusammen mit dem Namen jener obskuren französischen Partnerstadt. Meredith passierte die letzten Reihen von Hecken, und eine Tankstelle kam in Sicht, unordentlich, doch hell erleuchtet und beruhigend. Hinter der Tankstelle eine Reihe Steincottages, gefolgt von einem kleinen Wäldchen. Sie erreichten die ersten Straßenlaternen, die soeben zündeten und brummend zum Leben erwachten. Und dort lag auch schon Tudor Lodge, ein wenig abgesetzt von der Straße hinter einem eisernen Gitter. Die hohen Schornsteine und der charakteristische spitze Giebel hoben sich noch immer von dem dunkelgrauen Abendhimmel ab. Meredith lenkte zum Straßenrand.

»Da wären wir …« Sie unterbrach sich. Die junge Frau hatte bereits die Tür geöffnet und schlüpfte nach draußen.

»Danke fürs Mitnehmen.« Sie schlang sich den Proviantbeutel über die Schulter, lief ein paar Schritte die schmale Einfahrt hinauf und drehte sich dann zu Meredith um. Offensichtlich wartete sie, dass Meredith davonfuhr. Aus Höflichkeit gegenüber ihrer Wohltäterin? Nein, überlegte Meredith. Wohl kaum. Sie möchte nicht, dass ich zusehe, wie sie zur Tür geht und läutet. Irgendetwas stimmte nicht an der Geschichte, so viel stand fest. Doch selbst wenn es so war, fiel es Meredith schwer, sich einen Grund für dieses Verhalten vorzustellen. Die junge Frau hatte ausgesehen wie aus der Oberschicht. Um diese Tageszeit, wo die meisten Leute in ihre Häuser zurückkehrten, schien es unwahrscheinlich, dass ein Einbrecher unterwegs war – und falls doch, so war es noch viel unwahrscheinlicher, dass er sich von möglichen späteren Zeugen mitnehmen ließ. Meredith zwang sich zu einem knappen Lächeln, erwiderte den Abschiedsgruß und machte Anstalten zu fahren.

»Das Dumme mit dir ist«, schalt sie sich,

»dass du mit einem Polizisten befreundet bist. Das hat dich misstrauisch gemacht.« Meredith sah in den Rückspiegel, wo sich die schlanke Gestalt abwandte und das dunkle Tor von Tudor Lodge passierte, um im Dämmerlicht der Gärten dahinter zu verschwinden. Meredith hörte den Raben nicht, der sich stets als letzter der gefiederten Bewohner eines Gartens zur Nachtruhe niederlässt. Als der Rabe sein Territorium zur Abendpatrouille überflog und den Eindringling erspähte, stieß er ein lautes, sich wiederholendes Krächzen aus. Es war auch gar nicht nötig, dass sie ihn hörte. Denn trotz aller Bemühungen, ihre Befürchtungen zu unterdrücken, war in Meredith genau wie in Eddie Evans zuvor das beunruhigende Gefühl haften geblieben, etwas Unheilvollem Vorschub geleistet zu haben.

KAPITEL 2

ANDREW PENHALLOW klopfte an der Schlafzimmertür.

»Wie geht es dir jetzt?«, fragte er leise. Aus dem Zimmer dahinter murmelte seine Frau mit schmerzerfüllter Stimme eine unverständliche Antwort. Er öffnete die Tür einen Spaltbreit. Die Vorhänge waren zugezogen und sperrten das wenige noch vorhandene Tageslicht aus. Das Mobiliar des Schlafzimmers war nur in undeutlichen Umrissen zu erkennen. Auf dem Bett in der Mitte des Raums erkannte er eine zusammengekrümmte Gestalt: Carla, seine Frau, bot ein Bild des Elends.

»Entschuldige«, sagte er hilflos.

»Kann ich etwas für dich tun?«

»… sterben«, stöhnte das Häufchen Elend.

»Ein Aspirin?«

»Nein … geh weg … danke …« Er schloss leise die Tür und kehrte über die knarrende Eichentreppe nach unten zurück. Das Haus war von einer warmen, dumpfen Stille erfüllt. Mehr als einmal hatte Andrew gedacht, dass in diesem alten Gebäude während der Dämmerung die Vergangenheit zum Leben erwachte. Es war, als kämen die Geister all jener, die unter diesem Dach gelebt hatten, aus ihren Verstecken hervor, um Geschichten über längst vergangene Lieben und Abenteuer auszutauschen. Um darüber zu jammern, dass sie tot waren, oder sich über die gegenwärtigen Bewohner lustig zu machen. In einem Anflug barocker Fantasie fragte er sich, ob er sich eines Tages zu ihnen gesellen würde. Vielleicht hätte er einen Lieblingsplatz zum Spuken, dort neben dem geschnitzten Pfosten der Treppe, von wo aus er seine Nachfolger beobachten würde, wenn sie hinauf- und hinunterrannten, und sie verspottete, unsichtbar und lautlos. Wenn man erst einmal tot war, so vermutete Andrew, hatte man nicht mehr allzu viele Möglichkeiten. Man musste daraus machen, was man konnte. Andrew stand achtzehn Monate vor seinem fünfzigsten Geburtstag. Die große Fünf-Null rückte unbehaglich näher. Es deprimierte ihn weniger, als dass es ihn mürrisch machte. Er fürchtete, dass er anfing, die verschrobenen alten Leute zu verstehen, die ununterbrochen über die moderne Jugend schimpften. In Wirklichkeit schimpften sie natürlich darüber, dass sie selbst nicht länger jung waren. War es nicht George Bernard Shaw gewesen, der gestöhnt hatte, dass Jugend bei den Jungen verschwendet war? Würde zu ihm gepasst haben, dachte Andrew. Doch wer auch immer sich so einen Bart wachsen ließ und in Knickerbockers herumlief, hatte sich bestimmt längst von allen jugendlichen Geschmäckern abgewandt. Am Fuß der Treppe blieb Andrew stehen und gestattete sich einen Blick auf das glatt rasierte Spiegelbild an der Wand. Er war nie attraktiv gewesen. Im Lauf der Jahre hatte er ein wenig zugenommen, was ihm seiner Meinung nach Ausstrahlung und Würde verlieh – die Aura eines erfolgreichen Mannes. Und allzu schlecht sah er auch nicht aus. Einigen seiner Altersgenossen war es viel schlimmer ergangen. Gottgleich als Jugendliche, hatten sie im Lauf der Jahre nicht nur die Haare und die Figur verloren, sondern auch ihren sexuellen Antrieb. Ohne Zähne, ohne Augen, ohne Geschmack, ohne alles.

»Das ist richtig, Will, alter Junge«, murmelte Andrew und grinste sein Spiegelbild selbstgefällig an.

»Du sagst es. Aber nicht ich. Noch nicht, wie?« Er nickte seinem Spiegelbild ein letztes Mal zufrieden zu, was einen schuldbewussten Stich in ihm hervorrief – nicht, weil er sich selbst in einem eitlen Augenblick überrascht hatte, sondern weil er an seine Frau denken musste. Hier stand er und ergab sich in Eitelkeiten, während Carla, die alte treue Seele, dort oben im Dunkeln lag und sich vor Schmerzen krümmte. Eine absolut unberechenbare Sache, Migräne. Warf sie ohne jede Vorwarnung um. Sie musste irgendetwas gegessen haben, was den Anfall ausgelöst hatte. Das war üblicherweise der Fall, wenn auch nicht immer. Sie hatte heute in London gegessen, auf irgendeinem Treffen mit anderen Schriftstellern, und als sie nach Hause gekommen war, hatte sie bereits die ersten Anzeichen eines Anfalls gehabt, pulsierende Kopfschmerzen, blasse Gesichtsfarbe und aufsteigende Übelkeit. Mit dem klagenden Ausruf

»Elende Mousse au Chocolat!« war sie nach oben gestolpert und auf dem Bett zusammengebrochen, und seither hatte sie sich nicht mehr gerührt. Andrew hatte oft Schuldgefühle wegen Carla. Gelindert wurden sie durch die Tatsache, dass sie in beruflicher Hinsicht eine äußerst erfolgreiche Frau war und sich einen Namen gemacht hatte. Für Langeweile war keine Zeit. Manchmal fragte er sich jedoch, ob sie sich in Wirklichkeit nicht viel mehr eine erfolgreiche Ehe mit ihm gewünscht hätte und dass dieser Wunsch irgendwie beiden entgangen war. Er hatte, wie es im Innern viele Männer taten, von Abenteuern geträumt, von Reisen und von Dingen, die er als Herausforderungen ansehen konnte. Es waren die Sehnsüchte eines langweiligen, bücherversessenen Kindes gewesen, die sich im Erwachsenenalter zu einer Art spielerischer Cleverness verwandelt hatten. Doch nun stand das mittlere Alter vor der Tür, und mit ihm waren die ersten beunruhigenden Untertöne einer unangenehmen Wahrheit laut geworden. Dass all seine Träume Fantasie geblieben waren. Dass er nichts getan hatte, was andere vor ihm nicht ebenfalls vollbracht hätten. Dass er über einen Pfad getrottet war, den vor ihm Generationen von im Grunde genommen langweiligen Männern ausgetreten hatten. Und irgendwo auf diesem Weg zwischen Fantasie und Realität hatte er Carla schreckliches Unrecht zugefügt. Erneut brachte er sein schlechtes Gewissen zum Schweigen. Gott im Himmel, sie waren seit fünfundzwanzig Jahren verheiratet! Man konnte nicht sagen, die Ehe hätte nicht funktioniert. Im Kreis ihrer Freunde und Bekannten bedeutete ein Vierteljahrhundert mit ein und dem gleichen Partner so etwas wie einen einsamen Rekord. Wie es aussah, hatte er den Abend und das Haus für sich allein. Noch drei Tage, bis er wieder nach Brüssel musste. Drei Tage, die er wirklich besser nutzen sollte, um liegen gebliebene Angelegenheiten zu erledigen. Das Dumme mit langfristigen Arrangements war, dass, wenn sie dann tatsächlich endeten, niemand auf das Danach vorbereitet war. Es war ein Schock, der ihn fast in Depressionen hatte fallen lassen, wie kompliziert all das war. Nicht imstande zu sein, die Sorgen zu zeigen oder mit jemandem zu teilen, war ebenfalls schwierig, und nach so vielen Jahren hatte es ihn sehr traurig gemacht. Erneut meldete sich das schlechte Gewissen und wies darauf hin, dass das Bedauern in seinem Fall durchaus mit Erleichterung verbunden gewesen war. Was ihm in jüngeren Jahren nicht die geringsten Schwierigkeiten bereitet hatte, war mit den Jahren zu einer herkuleanischen Kraftanstrengung geworden. Nicht die sexuelle Seite, sagte er sich hastig. Nein, die Ausflüchte. Die verschiedenen Geschichten, die Anstrengung, sich nicht zu verplappern. Die eine Sache, die er nie gewollt hatte, sagte er sich, wie es alle selbstsüchtigen Männer taten, war, Carla zu verletzen. Er hatte stets endlose Schwierigkeiten auf sich genommen, um seiner Frau nicht wehzutun. Er fühlte sich rechtschaffen, als er nun in die Küche ging und den elektrischen Wasserkocher einschaltete, während ein abgestumpfter Gedanke dem nächsten folgte, unbeachtet wie die schrillen Reklameschilder an einem langen Bauzaun. Mach dir eine Tasse Tee, sieh ein wenig fern, wirf einen Blick in die Zeitung, geh zu Bett. Schlaf im Gästezimmer und lass die arme alte Carla allein in ihrem Elend. Eine Schande. Während der Wasserkocher langsam anfing zu rauschen, ging er zum Fenster und sah nach draußen in den Garten hinter dem Haus. Das Merkwürdige an diesem Haus war, dass es – traditionsgemäß – einen Geist besaß, doch es war kein Geist, der im Haus gespukt hätte. Es war ein Geist, der draußen spukte. Andrew hatte ihn nie zu Gesicht bekommen. Mrs Flack, die Haushaltshilfe, konnte unzählige Geschichten von Leuten erzählen, die den Geist gesehen hatten. Sie selbst eingeschlossen, vor längerer Zeit, als sie gekommen war, um dem beauftragten Partyservice bei einer Dinnerparty zur Hand zu gehen. Normalerweise arbeitete Mrs Flack vormittags und verließ das Haus spätestens am frühen Nachmittag. Doch sie betrachtete die Küche als ihr Reich und wollte da sein, um die Leute vom Partyservice zu beaufsichtigen, und sie hatte düster und rundheraus unfair erklärt, es wäre für den Fall,

»dass sie etwas zerbrechen oder die silbernen Löffel zu sehr mögen. Man kann nie wissen, schließlich sind es Fremde«. Als sie an jenem Abend nach draußen gegangen war, um die Reste von den Tellern und Platten des Hauptgangs zu entsorgen, hatte sie einen kühlen Zug im Nacken gespürt, als sie in der Dämmerung an der Mülltonne gestanden hatte.

»Ich hätte schwören können, Mr P. dass jemand hinter mir gestanden hat, so wirklich, wie es nur sein kann. Ich hab mich umgedreht und damit gerechnet, jemanden zu sehen. Und wissen Sie was? Nichts, nicht einmal ein Würstchen. Aber da war dieses überwältigende Gefühl von Trauer. Ich kann es wirklich nicht erklären.« Andrew konnte. Mrs Flack hatte den Wein probiert. Sie hatte eine Menge Wein probiert an jenem Abend, und nicht an allem war der Partyservice schuld. Andrew schien sich seinen Unglauben angemerkt haben zu lassen, denn Mrs Flack hatte sich aufgeplustert und ihn informiert, dass viele andere das arme Mädchen ebenfalls gesehen hätten.

»Das arme Mädchen« war eine Jungfrau in puritanischen Gewändern, ein Echo der turbulenten Geschichte des Hauses. Heutzutage gab es, soweit Andrew es beurteilen konnte, in Bamford keine Puritaner mehr. Kein Wunder, dass der Geist so traurig umherwandelte. Er kicherte vor sich hin, als er sich umdrehte und seinen Tee zubereitete. Er stellte ihn auf ein Tablett und fügte ein Stück Obstkuchen hinzu, wobei er sich fühlte wie ein Schuljunge, der eine Kiste mit Süßigkeiten stahl. Er machte Anstalten, sich mit seinem Tablett ins Wohnzimmer zurückzuziehen. In diesem Augenblick klopfte jemand an der Hintertür. Andrew stellte überrascht das Tablett ab. Wer um alles in der Welt mochte das sein? Vielleicht war es gar niemand. Vielleicht war es bloß ein Ast, der vom Wind gegen die Tür geworfen worden war, oder trockene Blätter. Es war spät, Andrew erwartete niemanden mehr, und außerdem kamen Besucher in der Regel zur Vordertür. Erneut klopfte es, beharrlicher diesmal. Es war jemand dort. Offensichtlich, vermutete Andrew, war jemand um das Haus herumgekommen, weil die Vordertür im Dunkeln lag, hatte das Licht in der Küche gesehen und versuchte nun, dort eingelassen zu werden. Andrew mochte die Vorstellung nicht, dass jemand am frühen Abend um das Haus herumschlich. Er musste daran denken, die Alarmanlage einzuschalten, bevor er zu Bett ging. Er trat ans Fenster und sah nach draußen, doch er konnte nicht erkennen, wer an der Tür stand. Über dem Garten hing bleiernes Dämmerlicht, doch es war noch nicht dunkel. Offensichtlich doch noch nicht zu spät für einen unangemeldeten Besucher.

»Einen Augenblick bitte!«, rief er und setzte sich in Bewegung, um die Tür zu öffnen. Eine kühle Brise wehte herein. Es dauerte einen Moment, bis seine Augen sich an das Halbdunkel gewöhnt hatten. Dann erkannte er eine Gestalt, die sich ihm näherte. Eine schlanke, weibliche Gestalt materialisierte sich vor ihm, mit langen Locken, die im Wind flatterten. Zuerst durchfuhr ihn ein Schock, und Aberglaube lähmte ihn, dann erkannte er seine Besucherin.

»Was zur Hölle willst du denn hier?«, ächzte er. Alans Haus lag in völliger Dunkelheit, als Meredith den Wagen am Bordsteinrand parkte. Nichts anderes hatte sie erwartet. Sie öffnete mit ihrem eigenen Schlüssel, klaubte den Stapel Post auf, der hinter der Tür auf dem Boden lag, und nahm ihn mit in die Küche am anderen Ende des engen Hausflurs. Sie schaltete das Licht ein und stöhnte auf. Offensichtlich war Alans Haushaltshilfe an jenem Morgen nicht da gewesen. Verbrannter Toast lag dort, wo Alan ihn hatte liegen lassen, auf dem Ablaufbrett der Spüle. Mehrere Tassen mit eingetrockneten Resten von Tee und Kaffee standen umher. Der Abfalleimer quoll fast über. Auf dem Tisch lag aufgeschlagen die neueste Ausgabe von The Garden, dem Magazin der Royal Horticultural Society, umgeben von Brotkrumen.

»Ich weigere mich«, sagte Meredith laut vor sich hin,

»für irgendjemand anderen die Hausarbeit zu erledigen.« Sie legte Alans Post neben die Zeitschrift. Sie war nicht wild auf Hausarbeit, nicht einmal auf ihre eigene, doch nachdem sie sich eine Tasse Tee gemacht hatte, setzte bald Langeweile ein. Es konnte noch eine ganze Weile dauern, bis Alan kam. Vielleicht war er von einem neuen Fall aufgehalten worden, oder sonst etwas war ihm dazwischen gekommen. Es passierte mehr oder weniger regelmäßig und führte dazu, dass sie seine Arbeit bei der Polizei insgeheim verfluchte. Um der Wahrheit die Ehre zu geben, hatte auch ihr eigener Beruf schon mehrfach zu unerwarteten Änderungen gemeinsamer Pläne geführt. Sie hängte ihre Schultertasche über eine Stuhllehne, schaltete den Wasserkocher ein und machte sich daran, die Küche aufzuräumen. Sie war gerade fertig und hatte ihren Tee getrunken, als sie einen Schlüssel im Schloss hörte und jemand draußen im Flur die Füße abtrat. Alan, die blonden Haare ungewöhnlich zerzaust und das schmale Gesicht gerötet, platzte in die Küche. Sie unterdrückte den Impuls zu lachen, weil in seinem Gesicht ein Ausdruck von Eifer und Schüchternheit zugleich stand, miteinander vermischt auf eine Weise, wie sie es noch bei keinem anderen Mann gesehen hatte. Seine blauen Augen brannten vor unstillbarer Neugier wie immer, als erwartete er etwas von anderen, irgendeinen Hinweis auf die gleiche Intelligenz. Er verlor niemals, sinnierte sie ironisch, nicht einmal in den extremsten Situationen, seine natürliche Aura der Vornehmheit. Wie er nun vor ihr stand, erinnerte er sie an einen aufgeregten Afghanen, der witternd die Schnauze in den Wind streckte, während er das glänzende Fell schüttelte und auf hohen, schlanken Beinen umhertrabte, als stünde er im Begriff, zu einem Abenteuer aufzubrechen.

»Ausgezeichnetes Timing!«, begrüßte Meredith ihn, während sie ihm entgegenging, die Arme hob und um seinen Hals schlang. Er sah sie angenehm überrascht an, denn von Natur aus war Meredith eher zurückhaltend.

»Es tut mir Leid …«, ächzte er und küsste sie flüchtig.

»Ich hab versucht, früher Feierabend zu machen. Ich hatte den Telefonhörer nach unserem Gespräch noch nicht wieder auf die Gabel gelegt, als sich die Dinge plötzlich überschlugen …«

»Keine Sorge«, beruhigte sie ihn, während Gewissensbisse in ihr aufstiegen.

»Es ist sowieso nur gestohlene Zeit, das sagte ich doch bereits. Eigentlich wäre ich erst morgen Mittag weggekommen, aber wir haben früher Schluss gemacht. Wie war deine Woche so?«

»Langweilig. Wie war der Lehrgang?« Meredith dachte über die Frage nach, bevor sie antwortete.

»Wie solche Lehrgänge üblicherweise sind. Insgesamt eine gute Gruppe, auch wenn die meisten die Veranstaltung als eine Woche Freizeit mit ein paar lästigen Hausarbeiten zwischendurch betrachtet haben.«

»Dann sieh es doch genauso«, empfahl Alan und trat zu dem Weinregal.

»Ich hatte eine Menge Arbeit mit der Lehrgangsvorbereitung …«, setzte Meredith zu einem Widerspruch an, doch als sie sah, dass Alan bereits eine Flasche in der Hand hielt und sie nun mit einem fragenden Blick bedachte, verschluckte sie den Rest ihrer Worte. Wen interessierte es auch schon? Sie jedenfalls hatte ihren Teil getan.

»Meinetwegen. Ja, der ist richtig, darauf habe ich Lust.« Sie streckte und räkelte sich wie eine Katze, dann entspannte sie sich wieder.

»Jetzt fängt das Wochenende an! Die Heimfahrt lief glatt, kein Stau, kein zäh fließender Verkehr, nichts. Morgen Nachmittag wäre es bestimmt schlimmer geworden, wenn der Wochenendverkehr einsetzt und alle nach Hause wollen. Das haben auf dem Lehrgang auch alle gesagt, und deswegen sind wir heute schon nach Hause gefahren.«

»Ich habe eine Idee«, erklärte er, während er mit dem Korkenzieher kämpfte.

»Gib mir zwanzig Minuten zum Duschen und Umziehen, und wir gehen in das neue griechische Restaurant essen. Es soll ziemlich gut sein, habe ich gehört.«

»Das klingt prima. Aber du musst nicht hetzen; lass dir Zeit. Wir haben Wochenende! Auch wenn ich vermute, dass du morgen schon wieder arbeiten wirst.« Er schnitt eine Grimasse.

»Wahrscheinlich. Vielleicht bin ich auch bis zum Mittag schon wieder da. Ich verspreche dir, dass ich mich bemühen werde. Wir unternehmen diesmal etwas Besonderes, etwas anderes. Eine Abwechslung vom Alltag.« Meredith erschauerte. Alltag. Das gefürchtete Wort. Das Leben wurde allmählich vorhersehbar. Sechsunddreißig Jahre lang hatte sie diesen Abgrund erfolgreich vermieden, und nun näherte sich unerbittlich die Aussicht auf ein geregeltes Leben ohne weitere Überraschungen. Die Rolle, die sie im Verlauf der letzten vier Tage hatte spielen müssen, hatte dieses Gefühl noch verstärkt. Laut und mehr, um sich selbst zu beruhigen als alles andere, sagte sie zu Alan:

»Ich hab heute Abend eine Regel gebrochen, die ich mir selbst aufgestellt hatte. Ich habe eine Tramperin mitgenommen.« Ein polizeiliches Stirnrunzeln.

»Sehr unvorsichtig von dir.«

»Es war ein Mädchen.«

»Gewalttäter sind nicht ausschließlich Männer. Die Mädchen sind heutzutage manchmal schlimmer als die Jungen«, entgegnete er düster.

»Dieses Mädchen war sehr wohl erzogen und attraktiv … sie war auf dem Weg nach Tudor Lodge.« Das weckte seine Aufmerksamkeit. Er stellte die geöffnete Flasche ab, ohne ein Glas gefüllt zu haben.

»Eine Anhalterin auf dem Weg nach Tudor Lodge? Bestimmt eine Freundin des jungen Luke.«

»Das dachte ich mir auch, aber als ich sie danach gefragt habe, sagte sie Nein. Ich war überrascht. Natürlich könnte sie auch gelogen haben.« Meredith erkannte, dass

»gelogen« vielleicht ein wenig übertrieben klang, und sie beeilte sich, ihre Worte abzuschwächen.

»Sie hat jedenfalls nicht gezögert, bevor sie Nein sagte. Andererseits war sie noch sehr jung und sah wirklich atemberaubend aus. Sie hatte eine prächtige Mähne. Sie war sehr selbstbewusst, vielleicht sogar ein wenig hochmütig.« Meredith schnitt eine Grimasse angesichts des altertümlichen Wortes, doch es schien passend.

»Sie hatte ein sehr vornehmes Benehmen für eine so junge Frau«, erklärte sie und fügte nachdenklich hinzu:

»Sie ist wahrscheinlich aus dem Lastzug ausgestiegen.« Meredith hob eine Hand und schob sich geistesabwesend eine dunkle Locke aus der Stirn.

»Was für einem Lastzug?« Alan war abgelenkt, bis ihm plötzlich der Wein wieder einfiel. Er schenkte zwei Gläser voll.

»Danke. Cheers!« Sie hob ihr Glas und trank einen Schluck.

»Sehr gut. Nun ja, da war ein Lastzug oben an der Ausfahrt, und ich glaube, sie ist aus diesem Lastzug ausgestiegen. Natürlich nur eine Mutmaßung. Sie hatte nur eine kleine Umhängetasche, kein großes Gepäck, und sie hat auch nicht den Daumen gehoben. Ich dachte, es wäre schon ein wenig dunkel, und es war einsam dort draußen, und so beschloss ich, den guten Samariter zu spielen.« Meredith zögerte.

»Ich glaube nicht, dass diese junge Frau schon einmal in Tudor Lodge gewesen ist. Ich frage mich, ob sie erwartet wurde. Ich hatte irgendwie das merkwürdige Gefühl, dass niemand mit ihrem Besuch rechnet. Und ich muss dir sagen, diese ganze Geschichte war schon ziemlich eigenartig.«

»Ist Andrew denn diese Woche zu Hause?«, erkundigte sich Alan.

»Ich denke schon. Ich war letzte Woche bei Carla. Sie erwartete Andrew für den Abend. Die meiste Zeit über weiß sie nicht, wann er auftaucht. Er ist sehr beschäftigt. Carla war aufgebracht, weil er das ganze Jahr noch keine Zeit hatte, um Luke beim Rugby zuzusehen. Sie war ein paar Mal in Cambridge, um sich die Spiele anzuschauen, doch ich denke, der Junge hätte lieber seinen Vater dabei gehabt. Andrew stört es ebenfalls. Ich schätze, sie haben sich irgendwie daran gewöhnt. Andrew arbeitet seit Jahren für die EU, in Brüssel oder Straßburg oder wo auch immer er gerade gebraucht wurde. Das Familienleben der Penhallows muss ganz schön durcheinander sein.«

»Ich hätte jedenfalls nichts dagegen, mal wieder ein wenig mit Andrew zu plaudern«, sinnierte Alan.

»Wir haben uns seit Gott weiß wie lange nicht mehr gesehen, und das ist eine Schande, wenn man bedenkt, wie nahe wir beieinander wohnen.«

»Wir waren beide an Neujahr zum Abendessen bei den Penhallows eingeladen«, erinnerte Meredith ihn.

»Aber du musstest wegen irgendeiner Fälschungsgeschichte arbeiten und hast abgesagt.«

»Wir machen es wieder gut. Sprich mit Carla und finde heraus, wann Andrew das nächste Mal zu Hause ist, und dann gehen wir alle zusammen zum Essen aus und reden von den guten alten Zeiten.« Meredith schnitt eine Grimasse.

»Etwa alte Schulgeschichten und so weiter? Ihr wart im gleichen Jahrgang, richtig?«

»Nicht ganz. Andrew Penhallow war ein Jahr über mir. Die Älteren haben sich nicht mit den Jüngeren abgegeben, deswegen waren wir nicht befreundet. Ich erinnere mich, dass er als Junge dick gewesen ist und die meiste Zeit über die Nase in Bücher vergraben hatte. Er war vor uns allen reif, gestern vierzehn, heute vierzig, du kennst diese Sorte. Auf direktem Weg zur Universität, und die Schule rieb sich die Hände angesichts eines zukünftigen Stipendiaten. Man konnte sich darauf verlassen, dass er einen lateinischen Text ohne Stolpern vortrug. Nutzlos im Sport, bei Mannschaftsspielen und so weiter.« Markby runzelte die Stirn.

»Ich frage mich, wer diese mysteriöse junge Frau gewesen sein mag? Bestimmt wurde sie von den Penhallows erwartet.«

»Ich bin ziemlich sicher, dass sie nicht erwartet wurde. Irgendetwas an ihr …« Meredith zögerte, während sie nach den richtigen Worten suchte.

»Irgendetwas an ihr war so … verstohlen. Nicht im Sinne von Schleichen, das meine ich nicht. Sie hat nicht versucht, ihr Gesicht zu verstecken. Ich sagte dir ja, sie war ziemlich selbstbewusst. Ich hatte einfach nur so ein merkwürdiges Gefühl. Ich hoffe doch, ich habe nichts Falsches getan, indem ich sie zum Haus der Penhallows gebracht habe?« Ihre Stimme hatte einen besorgten Klang angenommen.

»Wenn sie auf dem Weg zu den Penhallows war, dann wäre sie mit oder ohne deine Hilfe dorthin gekommen«, versicherte Markby ihr hastig. Merediths Auge fiel auf die aufgeschlagene Ausgabe von Markbys Gärtnermagazin. Auf der Seite war ein Bild eines traditionellen Cottage-Gartens, eines unordentlichen Fleckens ohne Form und Farbe. Sie legte den Finger auf das Bild.

»Wusstest du eigentlich«, fragte sie Markby,

»dass die Penhallows einen Geist in ihrem Garten haben?«

»Mal etwas anderes als Gartenzwerge mit Angelruten, nicht wahr?«

»Ich meine es ernst. Der Geist soll seit dem englischen Bürgerkrieg dort spuken, seit den 1640er Jahren. Ich sage der, aber ich sollte eigentlich sagen sie. Es ist nämlich eine junge Frau.«

»Und Carla hat diese geisterhafte Erscheinung gesehen, wie? Vor oder nach einem kräftigen Schluck an der Schlafmittelpulle?«

»Du bist einfach zu zynisch«, sagte Meredith.

»Das kommt von deiner Polizeiarbeit. Nein, es war eine traurige Liebesgeschichte, die durch unterschiedliche politische Herkunft der Liebenden zu Grunde ging. Ein Haufen Unsinn, schätze ich, aber trotzdem oder gerade deswegen so romantisch.« Er beugte sich vor und stieß mit seinem Glas leicht gegen ihres.

»Ich habe immer gewusst, dass unter dieser harten Schale ein romantisches Herz schlummert.«

»Ich habe keine harte Schale!«, begehrte sie indigniert auf, und ihre braunen Augen funkelten.

»Und wo wir schon dabei sind, ich bin auch nicht besonders romantisch. Aber ich mag die einheimische Geschichte, und diese hier sollte dir eigentlich entgegenkommen. Es ist nämlich eine schaurige Mordgeschichte!« Er lehnte sich zurück.

»Dann lass mal hören.«

»Nun ja, die Familie, die zur damaligen Zeit in Tudor Lodge lebte, gehörte zu den Rundköpfen, den Parlamentaristen. Die sechzehnjährige Tochter des Hausherrn hatte jedoch einen Liebsten, und er stammte aus einer royalistischen Familie. Und als die Sache des Königs verloren schien, traf die Familie des jungen Mannes Vorkehrungen für seine Flucht nach Frankreich. Doch er wollte ein letztes Mal zu seiner Liebsten, und er sandte ihr eine Nachricht durch einen vertrauenswürdigen Diener, dass sie bei Einbruch der Dämmerung im Garten hinter ihrem Haus auf ihn warten sollte. Doch der Diener verriet seinen Herrn, und auf dem Weg zum Treffpunkt wurde er von Rundköpfen in einen Hinterhalt gelockt und getötet. Und wann immer heutzutage ein Unglück über den jeweiligen Bewohnern von Tudor Lodge schwebt, kann man in der Dämmerung den Geist der jungen Liebenden sehen, die traurig durch den Garten streift und auf ihre verlorene Liebe wartet.«

»Wann immer ein Unglück über den Bewohnern schwebt, wie?«, sagte der ungläubige Markby mit einem schiefen Grinsen.

»Dann hoffen wir lieber, dass niemand diesen Geist in letzter Zeit gesehen hat, was?« Sein Grinsen wurde breiter.

»Es sei denn natürlich, sie hat ihren Stil geändert, sich einen modernen Rucksack besorgt und trampt nun per Anhalter durch das Land, um nach Tudor Lodge zu kommen.«

KAPITEL 3

ANDREW HATTE nicht gewusst, wie er sich verhalten sollte, und seine Überraschung mühsam verborgen, indem er sich in triviale Höflichkeiten flüchtete. Er hatte seiner Besucherin eine Tasse Tee eingeschenkt und ihr ein Stück Kuchen angeboten. Es verschaffte ihm ein wenig Zeit zum Nachdenken, wenn schon nichts anderes. Er hatte immer noch keine Ahnung, wie er seine Zwangslage lösen konnte. Sie hatte den Tee angenommen, doch nicht den Kuchen, und nun saß sie in einem Windsor-Sessel am Tisch und wartete. Ihre Hände ruhten auf den geschwungenen Armlehnen aus poliertem Holz. Zu ihren Füßen lag die khakifarbene Tasche, eine Art Proviantbeutel, wie er in Armeebekleidungsläden verkauft wurde. Ihr hübsches Gesicht, das ihn ausdruckslos unter der prachtvollen Mähne hervor ansah, erinnerte ihn unwillkürlich an eine Venus von Botticelli. Sie hatte ihn völlig in ihrer Gewalt. Es war keine Situation, die er genoss oder die länger andauern durfte als unbedingt nötig. Es gab immer einen Ausweg. Er war ausgebildeter Anwalt und war gut darin, Schlupflöcher zu finden. Diese – vorübergehende – Hilflosigkeit war eine sowohl neue als auch unerfreuliche Erfahrung für ihn. Er zerbröselte nervös seinen Kuchen zwischen den Fingern, was den Schweiß an den Händen noch klebriger machte.

»Du hättest wirklich nicht herkommen sollen, Kate«, sagte er.

»Bist du denn nicht froh, mich zu sehen?« Endlich rührte sie sich, zu seiner großen Erleichterung, doch nur, um an ihrer Teetasse zu nippen. Er fragte sich, ob sie überhaupt etwas getrunken oder ob sie nur so getan hatte. Es gab eine ganz ähnliche Episode in Der Graf von Monte Christo, wenn er sich recht entsann: Der verkleidete Held der Geschichte, in der Absicht, jene zur Strecke zu bringen, die ihn betrogen haben, besucht das Haus eines der Schurken und liefert ihm einen Hinweis auf seine wahre Identität, indem er sich weigert, etwas zu essen oder zu trinken. Das Brot mit einem Feind zu brechen hätte bedeutet, sich selbst den Luxus der Rache zu versagen. War es das, was sie wollte? Irgendeine Art von Rache? Die Frage brannte Andrew auf der Zunge, doch er wagte nicht sie auszusprechen. Zur gleichen Zeit sagte er sich, dass die Vorstellung Unsinn war. Sie war lediglich gekommen, weil sie ihn sehen wollte.

»Selbstverständlich bin ich froh, dich zu sehen, Liebling«, antwortete er.

»Aber nicht hier … ich meine, meine F…« Er brachte es nicht fertig, das Wort in ihrem Beisein auszusprechen.

»Carla ist oben.«

»Ah.« Spott funkelte in ihren grauen Augen.

»Sie könnte herunterkommen und uns überraschen? Dein kleines schuldbewusstes Geheimnis entdecken?«

»Sie ist krank«, entgegnete er kalt.

»Sie leidet an Migräne. Sie wird nicht nach unten kommen, und ganz ehrlich, Kate, ich mag die Art und Weise nicht, wie du das gesagt hast. Es gibt kein kleines schuldbewusstes Geheimnis.«

»Oh. Sie weiß also Bescheid?« Andrew errötete und wurde zornig.

»Nein! Ich habe nie … es war nicht nötig.«

»Also doch ein Geheimnis.«

»Na schön, wenn du es so willst, ja, es ist ein Geheimnis. Aber nein – es hat nichts mit Schuld zu tun.« Er wusste sogleich, dass er einen Fehler begangen hatte. Irgendein verdammter freudianischer Impuls hatte ihm die Worte in den Mund gelegt. Wenn es keine Frage von Schuldbewusstsein war, warum hatte er dann überhaupt davon angefangen? Warum hatte er sich in die Defensive drängen lassen, wenn es nichts gab, dessen er sich zu verteidigen hatte? Wäre Andrew irgendein einfacher Übeltäter vor dem Richter gewesen, hätte jeder halbwegs gescheite Staatsanwalt diesen Versprecher bemerkt und seine Aussage in der Luft zerrissen! Mit einem Mal hatte er das unangenehme Gefühl, ein bloßer Zuschauer zu sein – als hätte er sich zu den Geistern gesellt, über die er vorhin sinniert hatte, als sähe er sich dort sitzen, wie er schwitzte und über seine eigenen Worte stolperte. Wie lächerlich er aussehen musste, wie lächerlich seine Worte klangen! Das Bild, das er erst kurze Zeit zuvor von sich heraufbeschworen hatte, wich dem wenig schmeichelhaften Anblick eines stümperhaften, wichtigtuerischen Trottels. Kalter Angstschweiß brach ihm aus, und er fragte sich, ob es das war, was sie sah, wenn sie ihn anblickte. Sie konnte dieses fatale Wort unmöglich überhört haben. Er fürchtete sich davor, dass sie ihn auslachen könnte. Doch stattdessen sagte sie plötzlich kühl:

»Du hast dich nicht gemeldet.« Das war es also. Fast wäre er vor Erleichterung in Tränen ausgebrochen. Sie war gekränkt, und deswegen war sie hergekommen. Damit kannte er sich aus, und dafür hatte er die passenden Worte.

»Hör zu, Liebling, ich wollte mich melden, aber ich hatte so verdammt viel zu tun. Ich bin ein sehr beschäftigter Mann, und die Leute erwarten meine volle Aufmerksamkeit. Ich habe so viel im Kopf herumschwirren, und ich trage sehr große Verantwortung.« Zur Hölle, schon wieder hatte er es getan! Die falschen Worte drängten sich förmlich über seine Lippen. Er hätte nicht von Verantwortung anfangen dürfen! Ziemlich kleinlaut fuhr er fort:

»Du weißt, dass ich die halbe Zeit damit verbringe, zwischen dem Festland und der Insel hin- und herzureisen, und wenn ich mal ein paar freie Tage habe, dann bin ich offen gestanden meistens zu erschlagen, um irgendetwas zu unternehmen.«

»Warte mal«, sagte sie.

»Wie lange dauert es, eine Postkarte zu schreiben? Während du im Flugzeug oder im Eurostar sitzt, hast du doch bestimmt jede Menge Zeit, um eine kurze Karte zu schreiben? Wie lange dauert die Durchfahrt durch den Eurotunnel? Zwanzig Minuten? Ja, reichlich Zeit, um eine Karte zu schreiben.« Der Spott in ihrer Stimme nahm zu. Viel zu spät unternahm er einen zaghaften Versuch, moralische Überlegenheit zu zeigen und dadurch die Kontrolle zurückzugewinnen.

»Das reicht nun, Kate!«, sagte er scharf.

»Es ist völlig unnötig, so schnippisch zu sein! Ich gebe zu, dass ich dir eine Karte schreiben oder dich hätte anrufen sollen. Aber du hättest mich auch wissen lassen können, dass du auf dem Weg hierher bist, anstatt so mir nichts, dir nichts aufzutauchen.«

»Ich hätte natürlich bei dir zu Hause anrufen können«, entgegnete sie.

»Möglicherweise hätte Carla das Gespräch entgegengenommen. Ich hätte ihr sagen können, ich wäre deine Sekretärin.« Nun war er wirklich befremdet.

»Warum bist du so grausam?«, fragte er.

»Wann hat es dir jemals an etwas gefehlt? Ich habe wirklich immer mein Bestes getan für dich.« Sie beugte sich vor, und endlich war Emotion in ihren grauen Augen. Hass, wie er mit Entsetzen feststellte.

»Du hast mich sitzen lassen.«

»Ich habe dich nicht … nein, das …«, ächzte er.

»Ich habe versucht dir zu erklären, dass ich sehr viel Arbeit hatte. Ich wollte dich anrufen oder dir schreiben, sobald ich wieder in Brüssel angekommen wäre, ehrlich. Außerdem hast du zweimal deine Londoner Adresse gewechselt. Ich habe versucht dich anzurufen, es ist gar nicht so lange her, aber es war jemand Fremdes am Apparat.« Das war schon besser. Es war schließlich nicht seine Schuld. Seine Stimme wurde kalt und selbstgerecht. Doch sie zerquetschte seine neu gewonnene Zuversicht rasch wieder.

»Ich wohne seit vier Monaten in meiner gegenwärtigen Wohnung«, entgegnete sie kühl.

»Ich habe dir geschrieben und dir meine neue Adresse und Telefonnummer mitgeteilt.«

»Ich weiß nicht, warum du aus dem Cottage ausgezogen bist«, murmelte er.

»Weil ich nicht dort wohnen wollte, klar? In Cornwall, am Ende der Welt, meilenweit von jeder anderen Menschenseele entfernt! Das hätte dir so gefallen, wie? Mich auf dem Land zu verstecken, wo niemand zufällig über mich stolpern konnte. So hattest du es immer am liebsten, ist es nicht so?«

»Das ist nicht wahr, und das ist ungerecht«, entgegnete Andrew spröde und gepresst. Er verhielt sich nun wie gegenüber seinen Geschäftspartnern, und normalerweise wirkte es. Diesmal jedoch nicht. Nicht bei ihr. Sie lehnte sich lässig in ihrem Sessel zurück und wischte seinen großspurigen Protest beiseite.

»Ich habe übrigens Luke kennen gelernt.«

»L-luke …?« Andrew zuckte zusammen, als hätte jemand auf ihn geschossen.

»Wo?«

»Auf einer Party, nach einem Rugbyspiel. Ich bin mit ein paar Freundinnen hingegangen, um mir das Spiel anzusehen, und irgendwie haben wir uns eine Einladung auf die Party hinterher erschnorrt. Er ist unglaublich fit, nicht wahr? Und er sieht ziemlich gut aus.«

»Du hast es ihm doch nicht gesagt?« Aus Andrew sprach nackte Angst.

»Natürlich nicht. Obwohl ich mir denken könnte, dass der arme Junge es gerne wissen würde. Aber ich war nicht bereit, es ihm zu sagen – noch nicht. Sie waren damit beschäftigt, ihren Sieg zu feiern, und ziemlich betrunken. Er hätte überhaupt nicht registriert, was ich ihm gesagt hätte. Ich habe ein Bild dabei. Möchtest du es sehen?« Sie griff in ihre Umhängetasche und zog einen gelben Umschlag von der Sorte hervor, in der entwickelte Fotos beim Drogeriemarkt abgeholt werden. Sie blätterte durch den Inhalt und reichte ihm einen Abzug.

»Hier. Den kannst du behalten, wenn du magst.« Sie legte die restlichen Bilder auf den Tisch. Das konnte nicht sein – das war nur ein böser Traum. So hatten sich die Dinge nie entwickeln sollen. Er war so dumm gewesen. Er hätte es vorhersehen müssen. Das war ein Albtraum. Carla lag oben im Schlafzimmer und kämpfte mit ihren Kopfschmerzen und der Übelkeit, doch sie litt bestimmt nicht mehr als er. Trotzdem, was für ein Glück, dass sie ausgerechnet heute ihren Migräneanfall hatte. Wenigstens würde sie nicht nach unten kommen und hereinplatzen. Wie hätte er es erklären sollen? Wie konnte er eine Erklärung anbieten, die nicht wie eine faule Ausrede klang? Er fühlte sich ganz elend. Warum hatte er nicht die ganze Zeit über mit offenen Karten gespielt? Warum hatte er es nicht allen gesagt, frei und offen heraus? Der Schnappschuss war gelungen. Eine Gruppe ausgelassener junger Leute, gesund, attraktiv, voller Selbstbewusstsein – die Welt war ihr Zuhause. Jemand schwenkte eine Champagnerflasche. Die meisten waren bereits betrunken, das sah man deutlich, sogar Luke. Andrew war erleichtert, denn es bedeutete, dass Luke sich höchstwahrscheinlich nicht an sämtliche Einzelheiten dieser Begegnung erinnerte. Dann spürte Andrew einen Stachel der Eifersucht in sich, denn er selbst war nie der sportliche Typ gewesen. Er hatte stets die Kameradschaft beneidet, die Feiern nach den Spielen, das Selbstvertrauen, das die sportlichen Jugendlichen ausgestrahlt hatten. Doch der Anflug von Eifersucht wich sogleich Ärger, nicht nur über sie, sondern auch über sich selbst und seine Arbeit. Er war auf dem Festland aufgehalten worden, und zwar tatsächlich den größten Teil des Jahres. Es war nicht das erste Mal, dass er außer Stande gewesen war, zu den Spielen zu erscheinen, sowohl während Lukes Zeit an der Universität als auch schon früher, während seiner Schultage. Doch diesmal hatte seine Abwesenheit mehr ausgemacht als jemals zuvor. Wäre er dort gewesen, er hätte diese Sache verhindert. Er hatte es nicht zugelassen. Er hätte sie gesehen, und irgendwie wäre es ihm gelungen, die beiden auseinander zu halten. Verdammte Europäische Gemeinschaft! Verdammter Job! Verdammter beruflicher Erfolg, verdammt einfach alles! Alles verwandelte sich vor seinen Augen in wertlosen Abfall. Noch nie hatte sich Andrew älter gefühlt, verletzlicher, so fremd in seiner gewohnten Umgebung. Dort draußen existierte eine Welt, in welcher er seiner Überzeugung nach einen wichtigen Part spielte – er war ein bedeutender Mann. Doch in Wirklichkeit gehörte er nicht einmal hinein. Sie hatte nichts für ihn, und er empfand nichts für sie. Er ließ das Foto auf die restlichen auf dem Tisch fallen.

»Das ist ein sehr albernes Spiel, Kate«, sagte er kalt.

»Du weißt, dass er … es ist unmöglich! Mein Gott, ich werde nicht zulassen, dass du Luke verletzt. Ich meine es ernst! Ich werde es ihm selbst sagen. Ich werde ihm morgen noch schreiben. Und bis dahin wirst du dich von ihm fern halten, junge Dame!«

»Wir haben uns ziemlich nett unterhalten«, sagte sie.

»Er ist sehr süß.« Fast hätte er sie geschlagen.

»Du wirst dich von meinem Sohn fern halten!« Er hatte die Worte, ohne nachzudenken, hervorgestoßen und sie mehr verletzt, als er beabsichtigt oder auch nur geglaubt hatte, imstande zu sein. Sie zuckte zurück, doch dann beugte sie sich vor und entgegnete mit gleicher Vehemenz:

»Ich tue das, was ich verdammt nochmal will! Du hast kein Recht, mir Befehle zu erteilen!« Sie hatten die Stimmen erhoben, und nun wurden sie sich beide dessen gewahr. Ein verlegenes Schweigen senkte sich über den Raum. Es verschaffte Andrew Zeit, seine Strategie zu überdenken. Normalerweise war er sehr schlagfertig. Kämpfe nicht auf Terrain, das deinem Gegner besser liegt, sagte er sich. Schaff sie aus dem Haus. Rede erst wieder mit ihr, wenn du Zeit gehabt hast, dir zu überlegen, was du sagen willst, und wenn sie sich ein wenig abgeregt hat. Offensichtlich ist sie aufgebracht, weil du dich nicht gemeldet … weil du zu lange gebraucht hast, um dich bei ihr zu melden. Sie muss verstehen, wie viel du zu tun gehabt hast. Laut sagte er:

»Es wird bereits spät. Du kannst nicht über Nacht hier bleiben. Es gibt ein Lokal in Bamford, The Crown, und es vermietet Zimmer. Sie sind vernünftig ausgestattet. Gib mir einen Augenblick, um nach Carla zu sehen, ja? Danach fahre ich dich hin. Wie sieht es aus, hast du Geld bei dir?«

»Ich bin blank«, entgegnete sie.

»Ich kümmere mich darum. Warum hast du dich denn nicht gemeldet, wenn du Geld gebraucht hast? Was hast du mit deiner Aufwandsentschädigung gemacht?«

»Es war kein Vermögen«, sagte sie verächtlich.

»Ich hab das Geld ausgegeben. Ich bin auf eine Party gegangen und brauchte eine anständige Abendgarderobe. Ich hab eine hübsche gefunden. Sie hat sechshundert Pfund gekostet. Nicht mal so schlecht, ehrlich. Eigentlich sogar richtig preiswert.«

»Nicht schlecht?« Er stierte sie an.

»Sechshundert Pfund? Für ein Kleid, das du wahrscheinlich nur ein einziges Mal anziehen wirst?«

»Was sollte ich denn deiner Meinung nach tun? Zum Oxfam-Laden gehen und mir eins für fünfzehn Mäuse kaufen? Inklusive Schweißflecken unter den Armen?« Sie stieß ein wütendes Schnauben aus.

»Komm schon, es war heruntergesetzt. Auf die Hälfte reduziert, ein absolutes Schnäppchen.«

»Sechshundert Pfund war der heruntergesetzte Preis? Wo um alles in der Welt hast du dieses Kostüm gekauft?«

»Abendkleid, nicht Kostüm«, verbesserte sie ihn.

»Bei Harvey Nichols.«

»Zwischen Oxfam und Knightsbridge«, sagte Andrew erregt,

»gibt es eine ganze Latte von anderen Läden. Mit Waren in mittlerer Preisklasse.«

»Die alte Mode vom letzten Jahr verkaufen. Nein danke.« Er konnte diesen Streit nicht gewinnen. Es war Frauenlogik. Doch es war ihm egal – er war erleichtert, dass sie endlich über triviale Dinge wie ein Kleid stritten. Er erhob sich.

»Ich sehe kurz nach Carla. Warte hier.« Er stieg leise die Treppe hinauf und öffnete die Schlafzimmertür. Kein Geräusch drang heraus.

»Liebling? Ich fahre nochmal kurz nach Bamford zum Spirituosenladen. Wir haben fast keinen Gin mehr im Haus.« Keine Antwort. Das Licht vom Treppenabsatz, das in einem schmalen Band ins Zimmer fiel, erhellte die kleine Flasche auf dem Nachttisch. Offensichtlich hatte sie eine von ihren Pillen genommen, und davon schlief sie in der Regel tief und fest. Seine Frau würde nicht vor morgen Früh aufwachen. Sehr gut. Er kehrte in die Küche zurück und stellte erleichtert fest, dass Kate immer noch da war. Sie kramte im Kühlschrank herum.

»Lass das!«, schnappte er.

»Ich gebe dir Geld, dann kannst du dir im Crown ein Abendessen leisten.«

»Okay.« Ihre Antwort klang unbekümmert. Sie war endlich wieder vernünftig. Sie hatte ihm einen Schrecken einjagen wollen, und das war ihr gelungen. Jetzt war sie bereit, sich wieder vernünftig zu verhalten. Alles würde wieder in Ordnung kommen. Andrew lächelte und tätschelte ihr die Schulter.

»Es wird dir gefallen im Crown. Ganz bestimmt.« Sobald sie das Lokal betraten, erkannte er, dass er wahrscheinlich zu optimistisch gewesen war. Er hatte nie selbst im Crown genächtigt, doch es stand unübersehbar im Stadtzentrum, und man konnte es überhaupt nicht verfehlen. Er hatte immer gedacht, dass es von außen wie ein gemütliches altes Lokal aussah. Im Innern kamen ihm Zweifel. Es war alt, so viel stimmte. Wie es aussah, waren irgendwann in den dreißiger Jahren zum letzten Mal neue Möbel angeschafft worden. Das Crown war die Sorte Hotel, in der Handelsvertreter abstiegen – oder Leute, deren Wagen mitten in der Nacht den Dienst versagte und die in Bamford gestrandet waren. Die Empfangshalle lag dunkel, und durch die offene Tür zur Bar drang der Geruch nach Bier und Nikotin. Neben Andrew blickte sich Kate mit unverhülltem Entsetzen um. Sie hatte ihre Khakitasche über die Schulter geschlungen und blickte ihn nun von der Seite an.

»Das ist es also?«

»Es ist in Ordnung, du wirst sehen. Die Zimmer oben sind in Ordnung«, sagte er so optimistisch, wie er nur konnte, während er daran denken musste, dass er noch nie in der ersten Etage des Crown gewesen war. Ein junger Mann mit hagerem Gesicht und stechenden Augen, gekleidet in schwarze Hosen und Hemd mit Fliege und schicker Weste, kam aus der Bar, angezogen von ihrer Unterhaltung.

»Guten Abend, Sir, kann ich Ihnen helfen?« Andrew war bereits irritiert vom Geruch und dem Anblick des Hotels. Das allgemeine Verhalten des jungen Mannes und sein Aussehen, besonders seine Haare, die abstanden wie die Stacheln eines Stachelschweins, verärgerten ihn noch mehr.

»Ich möchte ein Zimmer buchen!«, schnappte er.

»Gibt es denn keinen Nachtportier? Nun ja, dann helfen Sie mir eben weiter.«

»Bedaure, Sir, aber ich bin nur der Barmann«, kam die Antwort, begleitet von einem spöttischen Glitzern in den Augen, als wollte er sich subtil an Andrew für dessen forsches Benehmen revanchieren.

»Der Rezeptionist kümmert sich sofort um Sie, Sir.« Er nickte Andrew forsch zu und bedachte Kate mit einem längeren, anerkennenden Blick, bevor er sich umwandte und zu seiner Pflicht zwischen Gläsern und Spirituosen zurückkehrte.

»Ignoranter junger Flegel …!«, murmelte Andrew. Endlich kam eine junge Frau durch die Tür hinter dem Empfangsschalter und sah sie fragend an. Andrew räusperte sich und begann von vorn.

»Haben Sie ein Zimmer frei?«

»Doppel oder Einzel?«, zwitscherte sie und blickte von ihm zu Kate und wieder zu ihm.

»Ein Einzelzimmer!«

»Oh, richtig.« Die junge Frau wirkte halbwegs überrascht. Sie drehte sich um und suchte das Schlüsselbrett ab.

»Wir haben leider nur noch ein Doppelzimmer frei.«

»Dann eben ein Doppelzimmer!«, brüllte Andrew sie fast an.

»Gütiger Gott, was ist nur los hier in diesem Laden? Warum haben Sie gefragt, wenn Sie wussten, dass nur noch ein einziges Zimmer frei ist?« Sie schob ihnen ein Formular hin.

»Bitte füllen Sie das hier aus«, schnappte sie.

»Lass mich das machen«, murmelte Andrew zu Kate gewandt.

»Ich fülle das Formular aus. Besser, wenn wir nicht deinen Namen und deine Anschrift eintragen.« Kate zuckte geringschätzig die Schultern. Erneut fühlte er sich gedemütigt. Es wurde schnell zu einer unangenehmen Angewohnheit. Inzwischen wollte er sie so schnell loswerden, wie es nur einigermaßen würdevoll ging. Mit übertriebener Geste zog er seine Brieftasche hervor und nahm eine Kreditkarte heraus.

»Buchen Sie das Zimmer auf diese Karte. Und alles andere ebenfalls, Mahlzeiten, Getränke und so weiter.« Die Empfangsdame schrieb die Kreditkartennummer gewissenhaft nieder. Dann wandte sie sich um und nahm einen großen, altmodischen Schlüssel vom Haken.

»Zimmer Nummer sechs, im ersten Stock, am Ende des Gangs.« Es gab keinen Pagen im Crown. Die Gäste schleppten ihr Gepäck und suchten ihr Zimmer selbst. Oder vielleicht rächte sich auch die Rezeptionistin heimlich an ihnen. Gemeinsam mit Kate stieg er die dunkle Treppe hinauf und wanderte durch den schmalen Gang. Die Tür von Nummer sechs ergab sich ihren Bemühungen mit dem Schlüssel, nachdem sie ein paar Sekunden mit dem antiquierten Schloss gekämpft hatten.

»Heruntergekommen«, war Kates Kommentar, als sie eintrat, einen Blick in die Runde warf und ihren Rucksack auf das Bett schmiss.

»So schlecht ist es auch wieder nicht«, sagte Andrew vorsichtig. Es hätte viel schlimmer sein können. Das Zimmer war groß und mit einem breiten Doppelbett ausgestattet. Wahrscheinlich gibt es überhaupt keine Einzelzimmer, dachte Andrew verstimmt. Das Mädchen am Empfang hatte aus reiner Neugier gefragt, das war alles. Es gab einen großen, altmodischen Kleiderschrank, ein Monstrum von einem Fernseher und eine mit einem Vorhang abgetrennte Nische mit einem Waschbecken dahinter. Auf dem kleinen Tisch standen Portionspackungen mit Tee und Kaffee, Döschen mit H-Milch und ein elektrischer Wasserkocher. An den Wänden hingen zwei Drucke mit viktorianischen Zeichnungen, jede zeigte eine Szene einer Fuchsjagd. Die erste war überschrieben mit

»Ausritt« und zeigte einen Mann in einem roten Dandy-Mantel auf einem muskulösen Pferd, die andere nannte sich

»Heimweg zu Fuß« und zeigte das gleiche Paar, das Pferd schmutzig und mit hängendem Kopf, der Dandy zu Fuß und zerzaust. Die Botschaft darin kam Andrew vor wie gegen ihn persönlich gerichteter Spott.

»Das Badezimmer ist wahrscheinlich irgendwo auf dem Gang«, sagte er hastig. Die Tür war ihm im Vorbeigehen aufgefallen.

»Hier hast du es einigermaßen gemütlich, und hier kannst du zu Abend essen.« Er warf einen Blick auf seine Uhr.

»Ich schätze, die Küche ist bis neun geöffnet. Morgen treffen wir uns unten in der Lounge, um halb zehn, in Ordnung? Dann können wir uns lange und ausgiebig unterhalten.«

»Sicher.« Sie setzte sich auf die Bettkante und hüpfte probehalber auf und ab. Andrew nahm erneut seine Brieftasche hervor.

»Was auch immer du hier im Hotel brauchst, geht auf meine Karte, aber hier ist noch ein wenig Bargeld, nur für den Fall.« Er nahm dreißig Pfund aus der Brieftasche; mehr hatte er nicht bei sich. Sie steckte das Geld ohne ein Wort des Dankes ein.

»Du solltest es nicht benötigen. Ich möchte, dass du im Hotel bleibst«, fuhr Andrew fort.

»Ich möchte nicht, dass du in Bamford umherwanderst. Es ist eine fremde Stadt, und du … du könntest dich verlaufen oder was weiß ich.«

»Du meinst, ich könnte jemanden in einem Pub treffen und ihm all die kleinen schmutzigen Details erzählen!« Sie war wieder darauf aus, ihn zu verletzen.

»Das meine ich nicht! Um Gottes willen, Kate! Du weißt sehr wohl, dass ich nur das Beste für dich will!« Er wollte hinzufügen

»Ich liebe dich«, doch er wusste, dass sie es mit Verachtung strafen würde. Stattdessen sagte er:

»Du bedeutest mir sehr, sehr viel.«

»Ich habe dich auch einmal geliebt«, antwortete sie fast unhörbar leise.

»Ich dachte einmal, du wärst der wunderbarste Mann auf der Welt!«

»Du hast einmal …?«, fragte Andrew. Doch sie antwortete nicht.

»Gute Nacht«, murmelte er.

»Wir sehen uns morgen Früh.« Mit diesen Worten wandte er sich ab und beeilte sich, das Zimmer zu verlassen. Die Rezeptionistin unten gähnte ungeniert, während er an ihr vorüber und nach draußen eilte. Es war kurz vor acht. Sie hatte um acht Uhr Feierabend, und der Nachtportier trat seinen Dienst an. Sie sah dem fetten Kauz hinterher und dachte, wie merkwürdig, dass er nicht bei seiner Tussi bleibt. Aber wahrscheinlich hat er eine Frau zu Hause und muss jetzt zu ihr. Das alles war wirklich nichts Neues im Crown. Was Andrew anging, er stieg in den Wagen und startete den Motor. Er war zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um seine Haushaltshilfe zu bemerken, Mrs Flack, die mit einem Biskuitblech auf dem Arm das Crown betrat. Mrs Flack ihrerseits war ebenfalls mit den Gedanken woanders, bei der Versammlung, der sie in wenigen Minuten beiwohnen würde, und so sah sie ihren Arbeitgeber nicht. Hätte einer der beiden den anderen erspäht, hätte es Erklärungen gegeben und sicherlich einen Unterschied gemacht. Andererseits vielleicht auch nicht.

»Die Pullover für Bosnien sind gut angekommen«, sagte Irene Flack.

»Was wir nun brauchen, ist ein Projekt für den Sommer.«

Die Damen des Strickzirkels scharrten mit den Füßen und klapperten mit leeren Tassen. Auf einem Tablett waren zwei leichte Biskuits übrig, doch niemand war mutig genug, das vorletzte davon zu nehmen. Die Versammlung fand in einem der

»Konferenzzimmer« statt, die das Crown an Organisationen mit Raumbedarf vermietete. Es war das kleinste der Konferenzzimmer, und es ging nach Osten hinaus. Die Luft war kühl, und es roch nach Staub. Das Zimmer wurde normalerweise als Abstellkammer benutzt, und entlang der Wände waren Reihen von Stühlen zu wackligen Säulen aufgestapelt. Doch es war billig, zentral gelegen, und das Crown servierte den im Mietpreis inbegriffenen Tee. Die Damen vom Strickzirkel wechselten einander darin ab, Kuchen mitzubringen. An diesem Abend war Mrs Flack an der Reihe gewesen; sie hatte leichte Biskuits und Sahneschnitten gemacht. Die Sahneschnitten waren zuerst weg gewesen.

»Wir könnten noch mehr Decken machen«, erbot sich jemand.

»Die Hilfsorganisationen fragen immer nach Decken, und damit kriegen wir sämtliche Wollreste weg.«

»Ich ertrage das nicht, schon wieder nur kleine Rechtecke zu stricken!«, protestierte Mrs Warburton.

»Außerdem haben wir bereits beim letzten Mal sämtliche Wollreste aufgebraucht.«

»Teewärmer sind heutzutage nicht sehr gefragt, wie es scheint«, sagte eine ältere Dame sorgenvoll.

»Zu schade, wirklich. Ich habe ein sehr hübsches Muster, es sieht aus wie eine Frau mit einem Reifrock. Wissen Sie, der Reifrock ist der eigentliche Wärmer, und man kann eine kleine Porzellanfrau oben befestigen.«

»Wenn man in Bangladesh wohnt und all seine Besitztümer bei einer Flut verloren hat«, entgegnete Mrs Warburton,

»dann sind Teewärmer wirklich das Letzte, was man gebrauchen kann.«

Mrs Flack, stets um Harmonie bemüht, unterbrach die beiden.

»Kleidung und Decken sind tatsächlich das, was die Hilfsorganisationen am liebsten zu nehmen scheinen«, sagte sie.

»Ich hätte da vielleicht eine Idee.«

Alle Blicke richteten sich auf sie. Mrs Warburton sah aus, als wollte sie sich auf Mrs Flack stürzen. Irene Flack errötete und sagte nur ein Wort.

»Babykleidung.« Alle schwiegen. Schließlich sagte Mrs Warburton langsam:

»Babykleidung. Wissen Sie, Irene, dass ist eine sehr gute Idee. Diese ganzen Flüchtlinge haben doch immer Dutzende von Babys.«

»Und Babys wachsen furchtbar schnell aus ihren Sachen!«, gab eine andere Dame eifrig zu bedenken.

»Ich habe jede Menge Strickmuster!«

»Anderseits ist Babywolle recht teuer.« Man konnte sich darauf verlassen, dass Mrs Warburton einen Haken fand, wenn es einen gab – selbst dann, wenn sie im Grunde genommen einverstanden war.

»Man kann sie relativ preiswert im Supermarkt kaufen, in großen Beuteln«, entgegnete Mrs Flack.

»Wir könnten die beliebtesten Sachen stricken; Esslätzchen und kleine Häubchen.«

»In diesen heißen Ländern tragen die Babys Wollmützen?«, fragte die ältere Dame skeptisch.

»Ich hätte gedacht, dass es nicht gut ist für die kleinen Köpfchen.« Mrs Warburton erwiderte, dass sie Bilder von Babys in Afrika gesehen hätte, die alle Mützen trügen. Vielleicht wurde es des Nachts kühl.

»Während des Tages halten die Mützen die Sonne ab«, schlug eine weitere Dame vor.

»Es ist sehr wichtig, dass Babys nicht zu viel Sonne abbekommen.« Irgendwie kam man zu dem Ergebnis, dass der Strickzirkel entweder zügig ans Werk musste oder die Babys der Dritten Welt würden an zu kalten Köpfchen oder zu viel Sonne leiden – beides ließ sich dadurch verhindern, dass man Lätzchen und Wollmützchen strickte. Schals wurden ebenfalls zur Sprache gebracht, doch sie waren zu arbeitsintensiv und verbrauchten zu viel Wolle, daher wurde der Vorschlag letztendlich abgelehnt. Damit war die Versammlung zu Ende. Alle erhoben sich und machten Anstalten aufzubrechen. Jemand stapelte ordentlich die Tassen, damit der Kellner nicht so viel Mühe beim Abräumen hatte. Mrs Flack sah zu ihrem Tablett und bemerkte, dass die beiden letzten Biskuits nun doch verschwunden waren. Sie blickte Mrs Warburton an, doch Mrs Warburton erwiderte ihren Blick mit einer einzigartigen Unschuldsmiene – ungeachtet der Kuchenkrümel in den Rüschen ihrer elfenbeinfarbenen Kreppbluse. Mrs Flack erbot sich, jeden mitzunehmen, der ohne eigene Fahrgelegenheit hergekommen war, doch Mrs Warburton hatte die ältere Dame bereits eingeladen, und alle anderen wurden abgeholt oder waren selbst mit dem Wagen da. Die Damen trennten sich. Es war Viertel nach neun abends.

Irene Flacks kleiner Wagen war alt und hatte in letzter Zeit ein ominöses Klappern entwickelt. Sie hoffte sehr, dass er nicht völlig auseinander fiel. Sie war auf den Wagen angewiesen. Sie war Witwe und lebte in einem der kleinen Reihencottages am Stadtrand, hinter Tudor Lodge und unmittelbar vor der Tankstelle. Es war sehr angenehm, so nah bei dem Haus zu wohnen, in dem sie täglich als Haushaltshilfe für die Penhallows arbeitete.

»Haushaltshilfe« klang besser als

»Reinemachefrau«, was ein Bild von Bürsten und Schrubbern und Schmierseife heraufbeschwor. Irene konnte zu Fuß zur Arbeit gehen – doch der Weg in die Stadt war recht weit und bei schlechtem Wetter alles andere als angenehm, und deswegen brauchte sie ihren alten Wagen. Es gab keine Busverbindung.

Der Motor tuckerte wie üblich vor sich hin, als sie vom Marktplatz fuhr und auf die Hauptstraße einbog, die aus der Stadt führte. Die Straßenbeleuchtung verströmte nur spärliches Licht. Zum Glück gab es um diese nächtliche Zeit in Bamford nicht mehr allzu viel Verkehr. Sie fuhr nicht gern bei starkem Verkehr. Auch Fußgänger waren nicht viele unterwegs – heutzutage gingen die Leute nicht mehr nach Einbruch der Dunkelheit durch die Straßen, nicht einmal in einer ländlichen Gemeinde wie Bamford. Nun ja, höchstens junge Leute, dachte Mrs Flack. Nicht jedoch die ältere Generation, nicht ihre Altersgenossen. Keine der Damen des Strickzirkels hätte nach Einbruch der Dunkelheit freiwillig einen Schritt auf die Straße gemacht. Der Gedanke stimmte Mrs Flack traurig, denn sie war in Bamford geboren und aufgewachsen und hatte nie woanders gelebt. Aber so war das eben, die Zeiten änderten sich.

Der Motor lief inzwischen hübsch rund und erfüllte sie mit Hoffnung, dass das Klappern vielleicht doch nichts Ernstes bedeutete. Sie war schon fast bei Tudor Lodge angekommen. Sie blickte durch die Windschutzscheibe und runzelte die Stirn. Da hatte sie doch gerade erst gedacht, dass niemand mehr um diese Zeit zu Fuß unterwegs wäre, und dann marschierte da doch tatsächlich jemand durch die Dunkelheit am Straßenrand entlang, in die gleiche Richtung wie sie. Eine junge Frau, wie sie jetzt sehen konnte, und ganz allein um diese Uhrzeit, wie Mrs Flack mit gelinder Empörung angesichts derartigen Leichtsinns feststellte. Wäre sie nicht schon fast zu Hause gewesen, hätte sie vielleicht sogar angehalten und der jungen Frau eine Mitfahrgelegenheit angeboten, obwohl sie normalerweise grundsätzlich keine Anhalter mitnahm. Man konnte schließlich nie wissen.

Sie erreichte die junge Frau und bedachte sie im Vorbeifahren mit einem neugierigen Blick. Es war schwer, etwas zu erkennen, doch sie war definitiv jung, und sie ging mit federnden Schritten. Sie hatte sehr lange Haare und trug eine Jeans und eine Jacke. Mrs Flack überholte sie genau vor der Einfahrt zu Tudor Lodge.

Danach fingen die kleinen Reihenhäuser an. Sie wohnte ganz am anderen Ende und parkte ihren Wagen auf einem unbebauten Stück Land zwischen der Tankstelle und ihrem eigenen Grundstück. Das Land gehörte wahrscheinlich zur Tankstelle, doch Harry Sawyer hatte noch nie einen Einwand erhoben, wenn sie ihren Wagen dort abstellte. Sie war Harry dankbar dafür, weil der Wagen nicht am Straßenrand stehen musste; außerdem war er stets bereit, sich um Reparaturen zu kümmern, und er nahm nur sehr wenig Geld dafür, manchmal sogar überhaupt keins.

Mrs Flack stieg aus, verschloss die Tür sorgfältig und ging über den Bürgersteig das kurze Stück zu ihrem kleinen Haus. Voraus lag Bamford, und sie konnte dank der Leuchtreklame der Tankstelle hinter ihr ein gutes Stück weit sehen. Sie war wirklich dankbar dafür. Die Beleuchtung brannte die ganze Nacht hindurch, und das war äußerst beruhigend. Mrs Flack kniff die Augen zusammen und hielt Ausschau nach der jungen Frau, die sie wenige Minuten zuvor auf der Höhe von Tudor Lodge überholt hatte. Sie hätte inzwischen die ersten Reihenhäuser erreicht haben müssen, und Mrs Flack war neugierig zu sehen, in welches Haus sie ging. Doch der Bürgersteig war leer.

»Wie eigenartig«, murmelte sie.

Wohin konnte das Mädchen verschwunden sein? So schnell konnte es unmöglich eines der Häuser betreten haben, oder? Mrs Flack spähte aus misstrauisch zusammengekniffenen Augen zu den anderen drei Cottages in der Reihe. Überall waren die Läden vor den Fenstern, die Türen zur Nacht versperrt. Mrs Flack begann zu überlegen.

Die alte Mrs Joss am anderen Ende, in dem Haus, das Tudor Lodge am nächsten lag, ging abends früh zu Bett und öffnete niemals nach Einbruch der Dunkelheit ihre Tür. Dorthin konnte das Mädchen also nicht verschwunden sein. Außerdem hatte Mrs Flack auch nicht gesehen, dass diese junge Frau Mrs Flacks direkte Nachbarn besucht hätte, mit denen sie kein gutes Verhältnis hatte. Was das Cottage dazwischen anging, das gehörte Leuten, die nur zum Wochenende herkamen, Stadtmenschen, die hin und wieder auftauchten und die – nach dem Aussehen des Cottages zu urteilen – gegenwärtig nicht zu Hause waren. Das Haus lag völlig dunkel, außerdem wusste man immer, wenn jemand da war, weil sie einen großen roten Wagen fuhren, ein sehr teures Modell, das am Straßenrand vor dem Haus parkte. Der Wagen besaß eine Alarmanlage, die regelmäßig mitten in der Nacht losheulte. Man wusste immer, wenn sie da waren, ohne jeden Zweifel. Damit blieb nur noch Tudor Lodge selbst übrig, und Mrs Flack wusste, dass zurzeit niemand zu Besuch bei den Penhallows war. Mrs Penhallow hätte sie sonst gebeten, das Gästebett frisch zu beziehen und das Zimmer herzurichten. Es war, als hätte sich die junge Frau einfach in Luft aufgelöst.

Eine kühle Brise wehte Mrs Flack in den Nacken. Sie erschauerte, schob den Schlüssel ins Schloss und sperrte ihre Haustür auf. Hastig schloss sie hinter sich ab; der Gedanke an umherwandernde Fremde mitten in der Nacht gefiel ihr nicht … genauso wenig wie das unerklärliche Verschwinden der jungen Frau, die wie vom Erdboden verschluckt war. Ein sehr merkwürdiges Gefühl beschlich Mrs Flack, ähnlich jener eigenartigen Erfahrung hinter dem Haus der Penhallows vor einiger Zeit. Mr Penhallow hatte sehr schroff reagiert, als sie ihm davon erzählt hatte, und sich auf verletzende Weise lustig über sie gemacht, indem er unterstellte, sie hätte vielleicht ein Glas zu viel getrunken (was rein zufällig stimmte, doch es war nur das eine Glas gewesen).

Jemand war in jener Nacht im Garten gewesen, dessen war Mrs Flack absolut sicher.

»Es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als … als …« zitierte sie unsicher das alte Sprichwort, doch sie wusste nicht genau, wie der Schluss lautete … als wir uns vorstellen können. Irgendetwas in der Art. Sie schob die Sicherheitskette vor und überprüfte sämtliche Fenster und die Hintertür, bevor sie nach oben ins Schlafzimmer ging. Sie hatte noch nicht lange gelegen und las immer noch, auf ihr Kopfkissen gestützt, in einem Krimi aus der Leihbücherei, als sie den Schrei hörte. Es war gerade eine spannende Stelle, und Irene war völlig in die Geschichte vertieft, doch nun schrak sie zusammen und setzte sich ruckhaft auf. Sie sah auf die Nachttischuhr. Zehn war gerade vorbei. Hatte sie sich den Schrei nur eingebildet? Nein, wohl kaum. Es war definitiv ein Schrei oder ein Ruf gewesen, nicht ganz nah, jedoch auch nicht allzu weit entfernt. Sie strengte ihre Ohren an, doch er wiederholte sich nicht. Sie fragte sich, ob der Schrei von der jungen Frau stammte, der sie unterwegs begegnet war, doch es hatte nicht wie ein Frauenschrei geklungen. Hätte es nach einem Frauenschrei geklungen, wäre Mrs Flack sofort aus dem Bett gesprungen und hätte die Polizei alarmiert. Doch es war ein sehr merkwürdiger Schrei gewesen, und sie war gar nicht sicher, ob er nicht von einem Tier stammte, beispielsweise einem Fuchs. Füchse waren nachts unterwegs und stießen merkwürdige Geräusche aus, ein eigenartiges Schreien und Jaulen, ganz besonders während der Paarung, was sie manchmal unverhohlen im Freien taten, draußen im Garten hinter dem Haus, wenn es dunkel war. Mrs Flack fühlte Groll in sich aufsteigen. Zuerst war diese junge Frau, an der sie auf dem Weg nach Hause vorbeigefahren war, einfach vom Erdboden verschwunden, und jetzt dieser Schrei. Ihr Lesevergnügen war dahin. Sie steckte ein Lesezeichen in das Buch und klappte es zu, dann legte sie es auf den Nachttisch. Sie schob die Füße aus dem Bett und tastete nach ihren Pantoffeln. Dann schlüpfte sie in ihren alten Morgenmantel und tappte zu einem der beiden Schlafzimmerfenster. Sie zeigten in verschiedene Richtungen hinaus. Eines nach hinten, auf den schmalen Garten. Dank der permanenten Beleuchtung von Sawyers Tankstelle war es dort niemals ganz dunkel. Der Rasen lag dort wie ein grauer Teppich, auf dem die Büsche dunkle, unförmige Umrisse bildeten. Nichts bewegte sich dazwischen, nicht einmal eine Katze. Irene Flacks Verärgerung wuchs von Minute zu Minute. Sie ging zu dem zweiten, kleineren Fenster in der Stirnwand des Hauses, von wo aus sie ihren eigenen Wagen auf dem unbebauten Grundstück sowie die Tankstelle dahinter sehen konnte. Jenseits der Tankstelle lag Harry Sawyers Bungalow. Kein Licht brannte im Haus. Er wohnte alleine dort. Harry Sawyer war verheiratet, doch seine Frau war mit einem Handelsvertreter für Doppelverglasungen durchgebrannt, was in Irene Flacks Augen nicht nur unmoralisch, sondern darüber hinaus ziemlich unbedacht gewesen war. In ihren Augen hatte ein Mann, der hart arbeitete und ein richtiges Geschäft besaß wie die Tankstelle, einer Frau weitaus mehr zu bieten als ein windiger Vertreter, der tagein, tagaus an fremde Haustüren klopfte in dem Bemühen, den Leuten etwas zu verkaufen, das sich keiner leisten konnte. Der arme Harry Sawyer. Er war darüber hinweggekommen, jedenfalls größtenteils, indem er noch härter gearbeitet hatte als zuvor. Während Irene hinsah, kam Harry aus der Hintertür der Werkstatt seiner Tankstelle und eilte zu seinem Bungalow. Er öffnete die Haustür. Das Licht im Flur ging an, und Irene erhaschte einen kurzen Blick auf Sawyers alten Hund, der seinen Herrn schwanzwedelnd begrüßte, dann schloss sich die Tür. Er hatte schon wieder bis spät in die Nacht gearbeitet, der arme Mann, und keine Frau im Haus, die ihm einen Tee gemacht oder ein Abendessen aufgetischt hätte. Irene schüttelte missbilligend den Kopf, während sie sich abwandte und in ihr warmes Bett zurückkehrte. Der

»Schrei« war, so sinnierte sie, wahrscheinlich gar kein Schrei gewesen, sondern ein mechanisches Kreischen aus der Werkstatt oder das Geräusch der großen metallenen Werkstatttore. Oder, dachte Mrs Flack, falls es doch ein Schrei gewesen war, dann war er aus dem Fernseher nebenan gekommen, der meistens bis spät in die Nacht lief. Die Nachbarn hatten eine Vorliebe für laute Actionfilme und mussten halb taub sein, wenn sie die Lautstärke dermaßen aufdrehten. Irene hatte schon mehrfach deswegen mit ihnen geredet, doch die Antwort war jedes Mal sehr mürrisch gewesen. Das war einer der Gründe, warum sie mit den Nachbarn nicht auskam. Auch sie gehörten zum Clan der alten Mrs Joss, ein Sohn und eine Reihe von Enkeln der Dame am Ende der Straße. Die Josses in Bamford waren keine angenehmen Nachbarn, und das nicht erst seit gestern. Andererseits war der Schrei vielleicht doch von weiter weg gekommen, als sie im ersten Augenblick gemeint hatte. Irgendwelche pöbelnden jungen Männer auf dem Heimweg aus den Pubs. Es war so still draußen, dass jedes Geräusch in der nächtlichen Luft weit getragen wurde. Bamford war wirklich nicht mehr das friedliche Marktstädtchen von einst, dachte Mrs Flack sehr aufgebracht. Doch nachdem es so viele mögliche Erklärungen für die Störung gab, war Mrs Flack endlich im Stande, den Vorfall aus ihren Gedanken zu verbannen. Sie kuschelte sich in die willkommene Wärme, zog sich die Decke bis über die Ohren und sperrte die unbefriedigende moderne Welt aus.

Andrew war um halb neun zu Hause angekommen und hatte den Wagen in die Garage gefahren, während er überlegte, ob Carla ihn wegfahren oder zurückkehren gehört hatte. Er durfte nicht vergessen, sollte sie fragen, was er zu ihr gesagt hatte. Dass er noch einmal in den Spirituosenladen gefahren war, um Gin zu besorgen.

Doch niemand rief seinen Namen von oben herunter, als er die Eingangshalle betrat. Sie schien immer noch zu schlafen. Andrew atmete erleichtert durch und schlich nach oben, um nach seiner Frau zu sehen. Ja, sie schlief tief und fest. Es sah aus, als hätte sie sich nicht bewegt, seit er das letzte Mal nach ihr gesehen hatte.

Er würde sich definitiv ein Bett in einem der freien Zimmer machen, um sie nicht zu stören. Er ging zum Wäscheschrank auf dem Flur und nahm Laken und einen Kopfkissenbezug hervor. Er beschloss, in Lukes Zimmer zu schlafen, weil es dort ein Federbett gab. Ihr Sohn tauchte manchmal ohne vorherige Ankündigung zu Hause auf, daher wurde das Federbett nicht weggepackt. Andrew spannte ein Laken über die Matratze und warf ein weiteres darüber, auf das er das Federbett legte. Er machte sich nicht die Mühe, einen Bezug über das Plumeau zu ziehen; er kam einfach nicht zurecht mit den elenden Dingern. Das Bett fühlte sich ein wenig feucht an, doch das lag wahrscheinlich nur an der Kälte. Im Badezimmer hing eine Wärmflasche.

Er trat hinaus auf den Korridor, um das zugehörige Badezimmer aufzusuchen (ihr gemeinsames Schlafzimmer, von Carla belegt, verfügte über ein eigenes Bad). Er duschte, und mit dem heißen Wasser flossen ein großer Teil Stress und Anspannung von ihm ab. Dick eingewickelt in ein großes Badetuch nahm er die Wärmflasche aus einem Schränkchen und ging damit nach unten, um den Wasserkocher einzuschalten und dieses wunderbar gemütliche Utensil aus einem Zeitalter vor Zentralheizung und elektrischen Heizkissen und -decken zu befüllen. Die einfachen Tätigkeiten, das Gefühl, alles unter Kontrolle zu haben und sein Schlafengehen zu organisieren, ließen ihn zu seinem inneren Gleichgewicht zurückfinden.

So sehr, dass er tatsächlich das kleine Zimmer aufsuchte, das sie Fernsehraum nannten, weil es ein Zufluchtsort für jedermann war, der eine Sendung sehen wollte, wenn die anderen es vorzogen, beisammen zu sitzen und sich zu unterhalten oder Karten zu spielen. Das Zimmer hatte seinen Ursprung in den Tagen, als Luke noch jünger gewesen war und endlos vor dem Fernseher gehangen hatte, um Polizeiserien und Autoverfolgungsjagden anzusehen. Seine Eltern hatten ihn in das kleine Fernsehzimmer ausquartiert. Später hatte Andrew herausgefunden, wie nützlich es war, wenn er ungestört eine politische Sendung ansehen wollte. Er hatte einen kleinen Barschrank installiert, zu dem er nun ging, um sich einen Gutenachttrunk einzuschenken. Er schaltete den Fernseher ein, um die ZehnUhr-Nachrichten zu sehen, während er seinen Malt Whiskey trank. Bald stellte er fest, dass ihm die Augen zufielen. Es war ein anstrengender Tag gewesen. Er schaltete den Fernseher aus und ging in die Küche.

Seine beschwingte Stimmung wurde augenblicklich getrübt beim Anblick der beiden leeren Teetassen, die ihn an seinen unangemeldeten Besuch erinnerten. Hoffentlich besaß sie genug Vernunft, um im Hotel zu bleiben. Er hielt es für unwahrscheinlich, dass sie in der Stadt umherwanderte, angesichts der späten Uhrzeit und des unangenehmen Wetters. Auf der anderen Seite, überlegte Andrew unruhig, hatte sie vielleicht beschlossen, nach unten in die Hotelbar zu gehen. Er erinnerte sich deutlich an den jungen Barmann mit dem hageren Gesicht und der schicken Weste. Er gehörte zu der Sorte, die ein hübsches Mädchen wie Kate anquatschten und ausfragten.

Er warf einen Blick auf das schnurlose Telefon auf dem Küchentresen und überlegte, ob er im Crown anrufen sollte. Doch wenn sie herausfand, dass er ihr nachspionierte, würde sie wütend reagieren – und offen gestanden, ihm reichte die Wut völlig, die sie jetzt schon auf ihn hatte.

»Auch wenn ich überhaupt nicht weiß, was in sie gefahren ist«, brummte er vor sich hin. Der Kuchen, jedenfalls der größte Teil, lag unberührt auf dem Teller. Er hatte keine Lust mehr auf Kuchen, deswegen stand er auf und kippte ihn in den Mülleimer. Er ließ die Tassen stehen – das konnte Mrs Flack am nächsten Morgen machen. Der Wasserkocher schaltete sich ab. Andrew füllte seine Wärmflasche, und mit der heißen Flasche in der Hand ging er nach draußen in die Halle. Er streckte die Hand nach dem Lichtschalter aus, und während er dies tat, fiel ihm ein, dass er die Alarmanlage noch nicht aktiviert hatte, deren Schalter am Fuß der Treppe war. Genau in diesem Augenblick, noch bevor er das Licht eingeschaltet hatte, geschah es. Jemand klopfte drängend an der Hintertür. Andrew wirbelte herum. Er traute seinen Ohren nicht. Nicht schon wieder! So stark war sein ungläubiges Staunen, dass er sich für einen Moment nicht rührte. Dann schwappte eine Woge des Ärgers über ihn hinweg. Er hätte wissen müssen, dass sie nicht in der Stimmung war, zu tun, was er ihr gesagt hatte. Er marschierte zur Tür und riss sie auf. Die kalte Nachtluft strich über sein Gesicht, als er nach draußen in die Dunkelheit starrte.

»Hör zu!«, schnappte er.

»Du kannst verdammt nochmal wieder dahin zurückgehen, wo du hergekommen bist!« Niemand antwortete, und niemand war zu sehen. Hatte er sich etwa alles nur eingebildet? Zögernd trat er einen Schritt in den Garten hinaus. Er war nicht für die nächtliche Kälte angezogen. Auf dem Gras hatte sich bereits Tau niedergeschlagen, der nun seine Pantoffel durchnässte und seine nackten Füße kalt werden ließ. Das Gefühl wurde noch verstärkt durch die heiße Gummiflasche, die er noch immer an sich gedrückt hielt, während er verdrießlich ein paar Schritte weiter in die Dunkelheit trat. Er blickte sich suchend um.

»Kate? Wenn du da bist, zeig dich! Wir können reingehen und drinnen reden, wenn du darauf bestehst. Aber hör auf, alberne Spielchen mit mir zu spielen! Ich kriege noch eine verdammte Lungenentzündung hier draußen!« Zu spät hörte er hinter sich ein Geräusch. Ein schwerer Gegenstand erwischte ihn am Kopf. Die Wärmflasche entglitt seinen Händen und fiel zu Boden, wo sie schwappend liegen blieb. Andrew stieß einen schrillen Schrei aus, weniger aus Überraschung, Furcht oder Schmerz, sondern weil die Luft in einem mächtigen Schwall aus seinen Lungen wich. Dann fiel er wie ein nasser Sack vornüber in das nasse Gras. Er war benommen, doch immer noch bei Bewusstsein und compos mentis genug, um zu erkennen, dass jemand ihn angegriffen hatte, auch wenn er im Augenblick nichts tun konnte, um sich zu wehren. Er lag stöhnend im nassen Gras. Wer auch immer ihn niedergeschlagen hatte, kam jetzt näher. Andrew wusste, dass er etwas dagegen tun, sich irgendwie verteidigen musste, doch das Einzige, was ihm einfiel, war der Gedanke, dass es sich hier um einen schrecklichen Irrtum handelte. Eine Gestalt beugte sich über ihn. Er öffnete die Augen, doch vor dem indigofarbenen Nachthimmel konnte er nicht erkennen, wer es war. Mit einer fast übermenschlichen Kraftanstrengung hob er den Arm und hielt ihn abwehrend zwischen sich und den anderen.

»Aufhören – bitte – das ist alles ein Missverständnis …«, stieß er hervor, denn auf irgendeine benommene Art und Weise war er immer noch davon überzeugt, dass es sich um einen Irrtum handelte und der oder die andere dies noch nicht bemerkt hatte. Dann traf ihn ein weiterer Schlag an der Schläfe und löste ein Feuerwerk bunter Lichter, gefolgt von brennendem Schmerz aus. Da erst wurde ihm bewusst, dass es kein Irrtum war. Dass es erst aufhören würde, wenn er tot war. Schock, Schmerz, schwindende Sinne, das alles lähmte ihn. Vor seinen Augen zog Nebel auf. Zu spät riss er seine verbliebenen Kräfte zusammen, um sich in einem letzten verzweifelten Aufbäumen zur Seite zu rollen. Ein dritter Schlag setzte seinen erbärmlichen Bemühungen ein Ende. Mit dem Gesicht nach unten, nasses Gras zwischen den Zähnen, die Finger in das Erdreich gekrallt, stieß er ein letztes undeutliches Stöhnen aus, bevor ein allerletzter Schlag seine Sinne für immer auslöschte.

KAPITEL 4

ALAN MARKBY legte die Hand auf das Tor von Tudor Lodge und zögerte. Die Szene vor ihm war nichts Unvertrautes. Tatsächlich war sie ihm nur allzu vertraut. Die Vorhänge und Läden des Hauses waren geschlossen, zumindest die zur Straße zeigenden, das traditionelle Zeichen, dass jemand gestorben war. In diesen neugierigen Zeiten war es außerdem ein Hinweis auf den Wunsch nach Privatsphäre, den Wunsch, von den zudringlichen Linsen der Fotografen verschont zu bleiben und den Grimassen der Notizblock oder Diktiergeräte schwingenden Reporter. Es gab eine Reihe von ihnen, wie Markby bereits missbilligend bemerkt hatte, die auf der Straße herumlungerten. Sie benahmen sich wie Lohnschreiber, die nach Erfolg bezahlt wurden. Gott allein wusste, woher sie so schnell Wind von der Geschichte bekommen hatten. Ein einheimischer Korrespondent vielleicht, der die Nachricht per Telefon an seine Agentur weitergegeben hatte. Sie drängten sich in kleinen Gruppen, wärmten sich durch heiße Getränke aus Thermoskannen, kauten dicke Sandwichs und plauderten, während sie die ganze Zeit über mit Adleraugen auf jede nachrichtenwürdige Entwicklung achteten. Jeder einzelne von ihnen stand unter Druck und musste eine Story abliefern. Der menschliche Aspekt. Die eigenartigen Begleitumstände. Und vor allem das Makabre. Die Leserschaft liebte das Gefühl von Gänsehaut. Ein wenig weiter unten an der Straße, neben einigen kleinen Reihenhäusern, wartete diskret ein Leichenwagen. Ein oder zwei überoptimistische Seelen unter den wartenden Journalisten hatten es gewagt, Markby zu begrüßen, als er aus dem Wagen stieg. Er hatte sie mit geübter Professionalität abgefertigt. Sie hatten seine Weigerung zu reden ohne großes Aufhebens akzeptiert. Sie wussten natürlich, dass er kaum mehr Informationen besaß als sie selbst, nachdem er gerade erst vor Ort eingetroffen war. Die richtige Zeit, um ihn zu bedrängen, würde erst noch kommen, später, wenn er den Tatort verließ. Markby hatte wenigstens einen von ihnen erkannt, er war von einer großen Tageszeitung. Wahrscheinlich wegen der politischen Tragweite der Angelegenheit. Die restlichen schätzte er als Boulevardreporter ein – sie waren hier, weil die ganze Sache nach Skandal stank. Markby seufzte und stieß das Tor auf. Es quietschte, dass es ihm durch Mark und Bein ging, als teilte es seine düstere Stimmung. Es war kurz nach zehn Uhr morgens. Die Sonnenstrahlen drangen munter durch die tief hängenden Wolkenfetzen. Später am Tag würde es vielleicht Regen geben. Gebrauchen konnten sie ihn. Die Gärten waren trocken. Er betrachtete den vor ihm liegenden. Der Boden war steinhart, was bedeutete, dass sie wohl kaum brauchbare Fußabdrücke finden würden. Ansonsten erweckte er einen gepflegten Eindruck. Der Rasen zu beiden Seiten des schmalen Wegs war kurz gemäht. Vereinzelt standen Büsche, von der langsam wachsenden Sorte, die wenig Pflege bedurfte. Weiter vorn, vor dem Haus, standen große Holztröge, in denen vermutlich Blumen gepflanzt wurden, sobald die Frostgefahr vorüber war. Der gepflegte Eindruck wurde gründlich verdorben durch die Spuren, die trotz des harten Bodens durch die zahlreichen hin und her laufenden Füße und Ausrüstungsteile seit Einbruch der Morgendämmerung verursacht worden waren. Der Rasen, der sich noch nicht ganz vom Winter erholt hatte, war durch einen deutlich sichtbaren Pfad markiert, der an der Seite um das Haus herum führte. Er folgte ihm und duckte sich unter dem blau-weißen Absperrband hindurch, das von einem in den Boden geschlagenen Pfosten an der Hausecke quer über den Rasen bis zum vorderen Gitter gespannt worden war und signalisierte, dass die Öffentlichkeit keinen Zutritt in den dahinter liegenden Bereich hatte. Während er das Haus auf dem Weg zum dahinter liegenden Garten umrundete, drangen die ersten Stimmen an sein Ohr. Hier gab es weiteren Rasen, der sich ein gutes Stück weit hinter das Haus erstreckte und von einer hohen, alten Trockenmauer umsäumt war. Am Fuß der Mauer wuchsen dicht gedrängt Stauden und Büsche. Drei oder vier gepflegte Pflaumenbäume, dem Aussehen nach uralt, spreizten ihre Zweige über eine Gruppe von Gestalten vor einem weißen Zelt. In Markby stieg kurz ein nostalgisches Gefühl auf, als er sich erinnerte, wie er als Kind über Nacht draußen im Obstgarten eines Verwandten hatte zelten dürfen. Ein uniformierter Constable mit einem Becher in der Hand sah ihn kommen und suchte hastig nach einer Stelle, wo er seinen Kaffee abstellen konnte. Er bückte sich, stellte den Becher neben einen Baumstamm und eilte Markby beflissen entgegen.

»Guten Morgen«, begrüßte Markby ihn und zeigte seinen Ausweis. Er kannte den jungen Mann nicht, und er schätzte, dass der junge Constable ihn vom Sehen her ebenfalls nicht kannte, wenngleich das nicht für seinen Namen galt.

»Guten Morgen, Sir!« Der junge Beamte richtete sich aus seiner schlaksigen Haltung auf.

»Inspector Pearce ist ebenfalls da, Sir. Er ist dort drüben.« Der Constable deutete unsicher auf das weiße Zelt. Seine Erfahrung war begrenzt, und vielleicht war er bisher bei dem einen oder anderen tödlichen Unfall am Ort des Geschehens eingesetzt worden, doch noch nie am Tatort eines augenscheinlichen Mordes. Er kannte selbstverständlich die Vorschriften, doch es gelang ihm nicht ganz, seine Aufregung zu unterdrücken. Seine Geste in Richtung des Zelts war übertrieben dramatisch und erinnerte an einen Cop aus dem Fernsehen.

»Der Doc war da und ist schon wieder weg«, fügte er hinzu.

»Ist die Spurensicherung vor Ort?«, fragte Markby.

»Jawohl, Sir, und Detective Sergeant Prescott.« Und Onkel Tom Cobbleigh und weiß der Geier wer noch alles. Halt, sei nicht schnippisch, dachte Markby. Ihm war nicht nach Scherzen zumute. Er stählte sich. Das hier würde eine hässliche Sache werden. Markby ging zum Zelt, schob die Klappe beiseite, zog den Kopf ein und trat ein.

»Hallo, Sir«, begrüßte ihn Pearce.

»Wir warten noch auf die Bereitschaftskräfte, um das Grundstück abzusuchen. Allerdings sieht alles danach aus, als wäre er hier gestorben, wo er gefunden wurde. Ein stumpfer Gegenstand. Kein Hinweis auf eine Waffe.« Im Zelt war es einigermaßen eng. Auf dem Boden lag der Leichnam, schicklich zugedeckt mit einem Tuch, das den größten Teil des freien Raumes einnahm. Daneben stand Sergeant Prescott, der Dritte im Zelt, ein groß gewachsener junger Mann. Nach Markbys Eintreten und angesichts des stämmigen Pearce wurde es sehr eng im Zelt, und sie riskierten, dass einer von ihnen versehentlich auf den Toten trat. Prescott räusperte sich taktvoll.

»Guten Morgen, Sir. Ich warte draußen, wenn es Ihnen recht ist.« Das Zelt wankte und schaukelte und drohte rings um die drei Männer und den Toten herum zusammenzufallen. Pearce hob den Arm, als wollte er den fallenden Stoff abwehren. Glücklicherweise gelang es Prescott, das Zelt zu verlassen, ohne dass es zum Desaster kam. Nachdem er draußen war, verteilten sich die beiden anderen Männer, sodass ein wenig mehr Raum für Bewegung entstand.

»Der Tote ist ein gewisser Andrew Penhallow, der Besitzer des Hauses«, begann Pearce.

»Mrs Penhallow leidet offensichtlich an Migräne. Sie hatte gestern Abend einen Anfall und ging früh zu Bett, nachdem sie ein starkes Schlafmittel genommen hatte. Sie schlief die ganze Nacht hindurch wie ein Stein und hat nicht gemerkt, dass ihr Mann nicht ins Bett gekommen ist, bis sie heute Morgen aufwachte. Das war gegen halb acht. Sie stand auf und suchte im Haus nach ihm. Dann kam sie in den Garten und fand den Toten hier liegen. Sie hat nichts gehört, aber wie hätte sie auch, sagt sie. Wegen des Schlafmittels. Sehr ärgerlich, das.« Markby überlegte, dass es für den Mörder ganz im Gegenteil sehr praktisch gewesen war.

»Dann sehen wir uns den Toten mal an«, sagte er, bückte sich und schlug das Laken zurück. Es war Andrew Penhallow, kein Zweifel. Er lag mit dem Gesicht nach unten. Ein Arm war unter dem Körper, der andere leicht ausgestreckt nach vorn. Er trug einen FrotteeBademantel und hatte Pantoffeln an den Füßen gehabt, doch er hatte sie im Fallen oder während des Angriffs verloren, und nun lagen sie ein Stück weit entfernt. Seine nackten weißen Füße zeigten Besenreiser um die Knöchel herum und ein paar Hühneraugen. Füße, Hände, Ellbogen … sie verraten einem immer das wirkliche Alter von jemandem, dachte Markby wehmütig. Die Haare am Hinterkopf des Mannes waren verklebt mit geronnenem Blut. Mehr verklebtes Blut und Knochensplitter hatten eine klebrige Kruste über einer weiteren Wunde an der Schläfe gebildet. Ein kleiner schwarzer Käfer war unter das Laken gekrabbelt und bewegte sich jetzt mit zitternden Fühlern auf die feuchte Stelle zu. Markby beugte sich vor, streckte die Hand aus und schnippte das Insekt mit dem Fingernagel weg. Dabei näherte er sich dem Toten, und der säuerliche Gestank von altem Urin stieg ihm in die Nase. Der Tod gewährt keine Würde, dachte er und ließ das Laken zurückfallen.

»Sieht aus, als wäre er auf dem Weg ins Bett gewesen, als irgendetwas ihn nach hier draußen gelockt hat«, sagte Pearce.

»Wir fanden eine volle Wärmflasche in der Nähe, als hätte er sie bei sich getragen, als er niedergeschlagen wurde. Das Wasser darin war eiskalt, als der Tote gefunden wurde. Drei oder vier Schläge, schätze ich.« Der Superintendent grunzte nur, während er hinunter auf den eingeschlagenen Schädel starrte.

»Wir müssen auf jeden Fall das Ergebnis der Obduktion abwarten, um festzustellen, ob die Schläge sofort tödlich waren oder ob er möglicherweise hätte gerettet werden können, wenn man ihn rechtzeitig entdeckt hätte.«

»Ein Schlag hat möglicherweise die richtige Stelle getroffen. Glück, schätze ich«, sagte Pearce, dann erkannte er, dass er vielleicht nicht die beste Wortwahl getroffen hatte, und beeilte sich weiterzureden, bevor Markby ihn tadeln konnte.

»Möglich wäre allerdings auch, dass er verblutet ist.«

»Er hat ziemlich stark geblutet, so viel steht fest«, entgegnete Markby. Pearce erkannte, dass Markby eine Warnung ausgesprochen hatte, nicht das Ergebnis der Obduktion vorwegzunehmen. Er nickte zerknirscht. Markby war die unglückliche Wortwahl Pearces nicht entgangen, doch es war wenig sinnvoll, Dave deswegen an die Kehle zu springen. Pearce war von Natur aus nicht gefühllos – er hatte nur unbedacht geredet.

»Wer hat den Toten identifiziert?«, fragte Markby. So sehr er auch an Anblicke wie diesen gewöhnt war – diesmal ging es ihm näher als gewöhnlich, genau wie er befürchtet hatte. Ein Grund mehr, sich nach außen hin völlig neutral zu geben.

»Sein Hausarzt, Dr. Pringle. Er wurde zu Mrs Penhallow gerufen, und er blieb, um uns den Tod zu bestätigen.«

»Wer hat den Arzt zu Mrs Penhallow gerufen? Wir?« Pearce schüttelte den Kopf.

»Die Reinemachefrau. Sie kam zur Arbeit, kurz nachdem Mrs Penhallow den Leichnam entdeckt hatte. Es war gegen halb acht und Viertel vor acht heute Morgen. Sie heißt Irene Flack, und sie hat ausgesagt, Mrs Penhallow hätte auf der Wiese neben dem Toten gesessen und wäre in einem schrecklichen Zustand gewesen. Sie hätte keinen zusammenhängenden Satz sprechen können und ununterbrochen geweint und geschrien. Mrs Flack wollte sie ins Haus führen, doch es gelang ihr nicht, und so rannte sie zum Telefon und alarmierte den Hausarzt. Anschließend hat sie die Polizei benachrichtigt. Sie scheint eine vernünftige Frau zu sein, die nicht so schnell den Kopf verliert. Sie hat ebenfalls bestätigt, dass der Tote Andrew Penhallow ist.«

»Okay. Dann können Sie ihn jetzt wegbringen lassen.« Diesmal zitterte Markbys Stimme ein wenig und verriet, wie sehr er innerlich aufgewühlt war. Er hatte genug Leichen in seinem Leben gesehen, viele davon in schlimmerem Zustand als diese hier. Doch Penhallow war ein Altersgenosse gewesen, vor vielen Jahren, während der Schulzeit, und sein Tod rührte alte, quälende Erinnerungen auf. Ich kannte ihn, Horatio … Der Tod eines Menschen aus der eigenen Generation, eines Menschen, der einem nahe gestanden hat, mit dem man zusammen aufgewachsen ist, erzeugt mehr als nur eine natürliche Besorgnis. Er erinnert in kalter Schärfe an die eigene Sterblichkeit. Markby war dagegen nicht immun. Verdammt, dachte er. Wer hätte gedacht, dass Penhallow eines Tages so enden würde? Er war als Kind so ein harmloser Spinner gewesen. Pearce hatte den Kopf aus dem Zelt gestreckt, um Markbys Anordnung an den Constable weiterzugeben, der sich gewichtigen Schrittes auf den Weg zum Leichenwagen machte, ein Stück weit die Straße hinunter.

»Wir haben die Türen und Fenster des Hauses in Augenschein genommen und nach Spuren eines Einbruchsversuchs gesucht«, berichtete Pearce.

»Wir haben nichts gefunden. Das Haus besitzt ein Alarmsystem, doch es war nicht eingeschaltet. Wahrscheinlich hätte Penhallow es noch eingeschaltet, bevor er zu Bett gegangen wäre. Was mich verwirrt, ist die Tatsache, dass er von hinten erschlagen wurde. Wenn er nach draußen gegangen ist, weil er ein Geräusch gehört oder vielleicht sogar etwas durch das Fenster beobachtet hat und nachsehen wollte, um den hypothetischen Besucher zu stellen, dann würde man doch erwarten, dass der Schlag von vorn gekommen wäre, oder? Ein flüchtender Eindringling würde sich ganz bestimmt nicht von hinten anschleichen, um Penhallow zu erschlagen. Er würde die Beine in die Hand nehmen und aus dem Garten flüchten, so schnell er kann, bevor der Hausherr ihn sieht. Oder ihn niederschlagen und dann flüchten. Bestimmt jedenfalls würde er nicht lange genug bleiben, um ihm wiederholt auf den Kopf zu schlagen.« Draußen bewegte sich jemand. Die beiden Männer verließen wortlos das Zelt, um den Leichenbestattern Platz zu machen, die den toten Andrew Penhallow mit so viel Würde, wie angesichts der Umstände möglich war, vom Boden seines eigenen Gartens aufhoben. Markby und Pearce beobachteten schweigend die Arbeit, bis Markby schließlich leise sagte:

»Ich kannte ihn flüchtig. Das heißt, wir waren zusammen auf der Schule.« Pearces Gesicht verriet Betroffenheit.

»Oh, das tut mir Leid, Sir. Ich wusste nicht, dass Sie mit ihm befreundet waren. Es muss schlimm sein für Sie.«

»›Freund‹ würde ich nicht sagen«, entgegnete Markby, der es mit dem Begriff recht genau nahm. Er mochte es nicht, wenn die Leute alle und jeden als Freunde bezeichneten, wenn sie in Wirklichkeit

»Bekannte« oder

»Kollegen« meinten.

»Freund« signalisierte einen Grad von Vertrautheit, der in Wirklichkeit nicht existierte und leicht zu falschen Annahmen verleiten konnte, genau wie kurze Zeit vorher Pearces voreilige Aussage, dass Penhallow verblutet war, bevor das Ergebnis der Autopsie vorlag.

»Er war kein Freund, nein – ich kannte ihn einfach nur, und das seit sehr langer Zeit. Wir standen uns nie besonders nahe. Ich habe mich am Rande für seine Karriere interessiert, wie das eben so ist, wenn man von jemandem hört, den man als pickliger Teenager gekannt hat. Er war ein sehr kluger Junge, so viel steht fest.« Markbys Gedanken eilten in die Vergangenheit und beschworen ein verschwommenes Bild eines dicklichen Jungen mit Brille herauf.

»Er war nicht gut in Sport oder bei Spielen.« Das hatte er auch Meredith gesagt. Eigenartig, wie solche Dinge im Gedächtnis haften blieben.

»Ein Streber, wie? Was hat er denn gemacht, beruflich, meine ich?«

»Er war eine anerkannte Kapazität auf dem Gebiet des internationalen Rechts. Er hat in Brüssel gearbeitet, bei der Europäischen Kommission. Er ist viel hin und her gereist. Ich vermute, ihm blieb nicht viel Zeit für ein gesellschaftliches Leben in seiner Heimat.« Auch diese Worte weckten eine vertraute, quälende Erinnerung.

»Er war zwar nicht gut im Sport, aber er hat nie aufgegeben«, sinnierte Markby.

»Eine Schande, wirklich. Sport ist immer ganz wichtig für die Beliebtheit in einer Klasse. Ich glaube nicht, dass Penhallow viele Freunde hatte, schon damals in der Schule nicht. Doch er wurde toleriert, schätze ich. Niemand hat ihn mehr schikaniert als andere oder ihm das Leben schwer gemacht. Ich war nicht überrascht, als ich erfuhr, dass er Jurist wurde. Er war schon als Junge ein pedantischer Typ. Er mag vielleicht nicht besonders sportlich gewesen sein, doch er kannte sämtliche Regeln auswendig, selbst die unverständlichsten. Unsere Schule damals hat viele Juristen und Pfarrer hervorgebracht.« Insgeheim war Pearce der Meinung, dass das Leben in Brüssel wahrscheinlich viel aufregender gewesen war als das Nachtleben in Bamford. Und wenn ein Junge von seiner Schule es geschafft hätte, entweder Jurist oder Pfarrer zu werden, hätte es in der Lokalzeitung eine Schlagzeile gegeben. Der Superintendent berichtete weiter:

»In den letzten Jahren sind wir uns nicht oft über den Weg gelaufen. Wie ich schon sagte, er war viel im Ausland. Wir sind uns gelegentlich begegnet, weil ich noch immer in Bamford wohne, und Bamford ist eine kleine Stadt. Meredith, ich meine Mrs Mitchell, ist mit Carla Penhallow bekannt, Andrew Penhallows Frau. Carla ist eine recht berühmte Persönlichkeit. Vielleicht haben Sie sie schon im Fernsehen gesehen. Sie ist von Haus aus Chemikerin, doch sie macht populärwissenschaftliche Sendungen, und sie hat eine Reihe von Sachbüchern geschrieben.« Verlegen erkundigte sich Pearce:

»Ich vermute, Sie wissen, ob Mrs Penhallow schon früher unter Migräneanfällen gelitten hat?« Es war eine absolut berechtigte Frage, der die Polizei mit Sicherheit nachgehen würde. Doch Markby kannte die Antwort bereits.

»Ich habe gehört, dass Carla häufig unter Migräneanfällen leidet. Meredith hat es mir gegenüber erwähnt; sie sagte, sie hätte in einem Frauenmagazin über Carla Penhallows gesundheitliche Probleme gelesen. Sie könnten sich bei ihrem Hausarzt erkundigen. Haben Sie schon mit Mrs Penhallow gesprochen?«

»Nur, um mich vorzustellen«, gestand Pearce.

»Sie war ein wenig ruhiger, doch immer noch nicht im Stande, Fragen zu beantworten. Ich dachte, dass ich sie irgendwoher kenne, und jetzt, nachdem Sie es erwähnt haben, fällt mir ein, dass ich sie tatsächlich schon im Fernsehen gesehen habe.« Pearce zögerte eine Sekunde, bevor er höflich fortfuhr:

»Ich wage die Vermutung, dass sie inzwischen vielleicht in der Lage ist, ein paar Fragen zu beantworten. Falls Sie zu ihr gehen möchten, Sir.« Markby registrierte leicht verschnupft, dass Pearce an diesem Tag dazu verdammt schien, ständig die falschen Worte auszusprechen.

»Mögen« war beispielsweise nicht ganz der Ausdruck, den Markby angesichts der Umstände benutzt hätte. Andererseits war es nur recht und billig, wenn er selbst mit Andrews Witwe sprach, und sei es nur, um seinen persönlichen Schock und seine Anteilnahme zum Ausdruck zu bringen und es nicht jemand anderem zu überlassen. Carla wäre ihm dankbar dafür – und sie würde es sicherlich merkwürdig finden, falls er es nicht tat. Er sah zum Haus.

»Ist außer Mrs Penhallow im Augenblick sonst noch jemand da?«, fragte er.

»Die Reinemachefrau, Mrs Flack«, antwortete Pearce.

»Sonst niemand. Keine weiteren Familienangehörigen. Die Penhallows haben einen Sohn, doch er ist im Moment nicht zu Hause. Er wurde bereits informiert.« Ein Stück weit entfernt wurde der Motor des Leichenwagens angelassen. Sergeant Prescott hatte Erkundigungen bei den übrigen Anwohnern der Straße eingezogen und kehrte nun zurück.

»Einer der Leichenbestatter«, begann er zaghaft,

»hat sich mit einer älteren Dame unterhalten, die unten in den Cottages wohnt, während sie dort auf die Freigabe gewartet haben.«

»Unterhalten?«, fragte Pearce misstrauisch.

»Sie kam nach draußen auf die Straße und bot den Männern Tee an«, erklärte Prescott.

»Und als sie fertig war mit ›O wie grauenhaft! O wie schrecklich! O mein Gott‹, hat sie ihnen anvertraut, dass letzte Nacht in Tudor Lodge ein reges Ein und Aus geherrscht hat. Sie weiß das, weil sie früh schlafen geht, doch ihr Schlafzimmer besitzt ein kleines Fenster, das auf diese Gärten hier hinaus zeigt. Es handelt sich um Reihencottages, und das Haus von Mrs Joss, so heißt die Dame, ist das letzte in der Reihe, Tudor Lodge am nächsten gelegen, Sir. Wenn ein Wagen aus der Auffahrt kommt oder in die Auffahrt biegt, streifen die Scheinwerfer ihr Fenster, deswegen weiß sie es. Ich dachte, ich gehe gleich und stelle ihr ein paar Fragen.« Markby nickte.

»Ja. Aber passen Sie auf die Presse auf. Gehen Sie nach Möglichkeit hinten rum … oh, und bitten Sie diese Mrs Joss, sich mit niemand anderem darüber zu ›unterhalten‹.« Prescott marschierte athletisch über den Rasen davon. Nichtstun war ihm völlig fremd. Markby schlenderte langsam zum Hintereingang von Tudor Lodge.

Die eilig herbeigerufenen Einsatzkräfte, die das Grundstück absuchen sollten, waren inzwischen eingetroffen und wurden von Pearce in ihre Aufgabe eingewiesen. Markby hob die Hand, um an die Küchentür zu klopfen, doch dann änderte er seine Meinung und trat zu dem Fenster daneben. Er spähte ins Innere des Hauses.